MAGAZIN – LEBEN IN ISRAEL

Kolumne: Protest, Protest und nochmal Protest

in Israel Zwischenzeilen/Kolumne

Israelis sind für viele Dinge bekannt. Viele gute Dinge. Erst in dieser Woche hatte ich das grosse Vergnügen für eine deutsche Reisegruppe über, wie ich es nannte, unser wunderbares, kompliziertes, schönes, anstrengendes, intensives, kleines Land zu berichten. Ich erzähle immer gerne über die Menschen. Klar, Politik, klar, Startup-Nation, klar, Konfliktregion, aber hört mal, die Menschen hier. Die sind so vielseitig und komplex und spannend und schön. Und dabei vergesse ich nie zu erwähnen, was mich an Israelis von Anfang an begeistert hat und was ich nie wieder in meinem Leben missen möchte: Die Direktheit und die Wärme, aber auch die Tatsache, dass Israelis sich nicht verstellen – man fühlt hier, was man fühlt, egal, ob das heisst, dass man vor Gefühl schreit oder heult oder viel zu laut lacht – was für mich, die in einem formellen Land mit vielen Verhaltensregeln und damit verbundenem, beherrsch dich mal, aufgewachsen ist, die ultimative Freiheit bedeutet.

Wofür Israelis nicht bekannt sind, ist Ausdauer. Und vorausschauendes, langfristiges Denken. Man regt sich normalerweise kurz auf, eine Woche lang über die Cottagepreise, eine Woche über die Tatsache, dass importierte Autos horrende besteuert werden, und dann kauft man weiter Cottage und Autos. Das Leben hier ist auf den Moment fokussiert, Dinge können sich schnell ändern im Nahen Osten, weswegen die Leute sich auch selten wirklich verrückt machen lassen von irgendwelchen politischen oder gesellschaftlichen Ereignissen.

Doch dieses Mal fühlt es sich zumindest für mich anders an. Das erste Mal in meinen 13 Jahren im Land spüre ich eine Ausdauer, und eine damit einhergehende Hingabe, die ich so bisher noch nie im Land erlebt habe. Seit nunmehr einem Monat gehen viele viele Israelis, hunderttausende, jeden Samstag Abend demonstrieren. Sie laufen in Tel Aviv, aber auch in Haifa, Beersheva oder Jerusalem, mit ihren Fahnen los und rufen im Chor „Demokratia“ und oftmals singen sie auch das bekannte israelische Lied „Ich habe kein anderes Land“, und man steht dazwischen und weint vor Rührung. Woche für Woche seit einem Monat. Und zusätzlich pilgerten am Montag fast einhunderttausend Menschen nach Jerusalem, um vor der Knesset gegen die geplante Justizreform zu protestieren, die am selben Tag offiziell von der neuen Regierung angestossen wurde. Die Videos vom Jerusalemer Hauptbahnhof, auf dem hunderte Menschen den Bahnsteig und die Rolltreppen befüllten, „Demokratia, Demokratia“ rufend, mit Fahnen und Megaphonen, erzeugen eine Gänsehaut, die noch lange nachhallt. Und die deutlich macht: Die Menschen in diesem Land haben Angst davor, ihr Land zu verlieren. Nicht mehr und nicht weniger.

Sogar der israelische Präsident Itzchak Herzog, qua Position dafür bestimmt, politisch neutral zu sein, meldete sich am Sonntagabend in einer einzigartigen Rede zu Wort und warnte davor, dass Israel auf dem Weg sei einen „gesellschaftlichen und verfassungsrechtlichen Zusammenbruch“ zu erleiden und dass das Land kurz vor einer gewaltvollen Kollision stünde. Vor vier grossen Israel-Fahnen bat der Präsident, am Montag nicht wie geplant über den ersten Gesetzesentwurf zur Justizreform im Plenum der Knesset abzustimmen, sondern seine Vorschläge, die er im Weiteren ausführte, zunächst im Ausschuss zu prüfen – eine Bitte, die von den Verantwortlichen schnell abgelehnt wurde. Wobei ich mich persönlich schon frage, wie lange die neue Regierung diese leidenschaftlichen Proteste noch ignorieren kann. Wie lange können sie so tun, als wären die anhalten Proteste eine temporäre Wut der Menschen, die schon irgendwann wieder verraucht?

Ich bin erst seit 13 Jahren hier. Ich reise erst seit knapp 18 Jahren regelmässig in dieses Land. Ich habe viele israelische Ausnahmezustände wie den Yom Kippur-Krieg oder die Wirtschaftskrise der 80er Jahre nicht miterlebt, andere wie den zweiten Libanonkrieg oder die bürgerkriegsähnlichen Zustände 2021 aber schon – und ich muss sagen: so besorgt wie im Moment habe ich das Land noch nie gesehen. Natürlich geht das Leben weiter, man redet über Kita-Zeugs und das schlechte Hort-Essen und welche Party am Wochenende die beste sein wird. Aber es ist, als hätte sich eine Art Untergangsstimmung in unser Leben hier gemischt, die nun wie ein Lied, ständig im Hintergrund läuft. Die unter uns wabert, wie nicht fester Boden, auf dem wir jederzeitig auszurutschen drohen. Und die über uns hängt wie eine düstere Gewitterwolke. Sie wird nicht so schnell verschwinden. So lange die Regierung ihren Kurs weiter ohne Rücksicht fortführt, so lange wird ein grosser Teil der israelischen Gesellschaft protestieren. Protest, Protest und nochmal Protest. Die Angst hat die Ausdauer ins Land gebracht.

Die Autorin und ihre Kinder bei einer der Demonstrationen in Tel Aviv (Bild: Zelda Biller).

Redakteurin Katharina Höftmann Ciobotaru arbeitete im Auslandsbüro der dpa in Tel Aviv und für die WELT ONLINE. Sie lebt als freie Journalistin und Buchautorin in Tel Aviv («Guten Morgen Tel Aviv», «Die letzte Sünde»).

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