Tel Aviv: Meer. Licht. Azur. Sand, Baugerüste, Kioske in den Alleen, eine hebräische Stadt, weiss und geradlinig, wächst zwischen Orangenhainen und Sanddünen heran. Nicht einfach ein Ort, zu dem du dir einen Fahrschein löst und mit dem Egged-Bus fährst, sondern ein anderer Kontinent.
Aus: Amos Oz „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“
Diese Worte sind wahrscheinlich meine liebsten Amos Oz-Zeilen. Weil sie die Stadt beschreiben, die ich liebe. Und weil in den wenigen Zeilen deutlich wird, dass Oz ein Schriftsteller war, der in seiner eigenen Kategorie spielte. Der Worte aneinanderreihen und zu einer mitreissenden, berührenden Geschichte zaubern konnte, wie kaum ein anderer. Ein Schriftsteller, der nicht nur fantastisch schrieb, sondern gleichzeitig ein hervorragender Beobachter war – eine Kombination, die man in dieser Ausprägung selten findet. Es sind meine liebsten Oz-Zeilen und gleichzeitig tue ich diesem Jahrhundertschriftsteller damit natürlich Unrecht, denn Amos Oz hat in seinem Leben einen immensen Reichtum an Büchern verfasst und ich habe lediglich zwei davon gelesen. Ich bin mir sicher, dass in anderen Büchern, in anderen Geschichten, von anderen Orten und anderen Gefühlen noch Tausend mehr solcher zauberhaften Zeilen mit perfekten Worten stecken und es mag ein Leben dauern, bis ich all diese Bücher gelesen habe – aber das heisst nicht, dass ich es nicht probieren werde.
Amos Oz war der erste israelische Autor, von dem ich mir ein Buch kaufte: „Ein anderer Ort“, erzählt die Geschichte von einem kleinen Kibbuz, der im Norden Israels von aussen und innen bedroht ist. Es ist eine spezielle Geschichte, denn wer kennt schon auf der Welt das Leben in einem kleinen israelischen Kibbuz, und doch ist es eine Geschichte vom Leben, wie wir es alle ein wenig leben. Es geht um Klatsch und Tratsch, um Liebesverhältnisse, um ideologische Differenzen – das Leben in seiner Reichhaltigkeit mit all den Abbiegungen und Sackgassen zu beschreiben, darin war Oz ein Meister. Und doch war er für Israel viel mehr. Er war ein Intellektueller par excellence. Ein Mahner, einer, der die Situation Israels kritisch und intelligent erfasste, der immer dazu aufforderte, die Komplexität der Probleme und Konflikte zu respektieren und der sich gleichzeitig vehement gegen Fanatismus aussprach. Kein Pazifist, wie er gerne betonte, sondern ein „Friedensaktivist“.
Oz, geboren 1939 in Jerusalem, gestorben 2018 in Tel Aviv, war ein Chronist der israelischen Geschichte. Er lebte in der Hauptstadt, als dort die grossen Gelehrten wie Martin Buber und S. J. Agnon, noch in Scharen durch die Strassen flanierten. Er lebte im Kibbuz, für dessen Pioniere er schon früh eine Art bewundernde Begeisterung pflegte. Und später im Negev, weil das Klima dort besser für seinen von Asthma geplagten Sohn war. Natürlich lebte er auch in Tel Aviv, dieser Stadt, deren Essenz er schon so früh erfasst hatte. Oz kannte also all die verschiedenen Gesichter Israels, die Leben, die man in diesem komplexen Land leben konnte. Und er liebte das Land. Das dringt durch all die Geschichten, die er von ihm erzählt. Dass er später ein Mitbegründer der Organisation Peace Now wurde, war nur eine natürliche Konsequenz aus seiner Liebe für Israel und aus seiner Vorstellung, was für ein Land seine Heimat sein sollte. Weil man in einem Land wie Israel eben nie „nur“ Schriftsteller sein kann, sondern eine politische Meinung haben muss, wenn man will, dass die Heimat weiter existiert.
„Humor und Neugierde sind die Gegenmittel für Fanatismus“, sagte Oz einst in einem Fernsehinterview. Das ist ein einfacher Satz für einen Mann, der so besonders war, dass er schon im Alter von 14 Jahren seinem Jugendfreund Reuven Rivlin einen dreistündigen Vortrag über den Unterschied zwischen politischem und mystischem Zionismus hielt, wie Staatspräsident Rivlin sich bei seiner Trauerrede in dieser Woche erinnerte. Aber es waren die Worte eines Mannes, der Gedanken auch auf den Punkt bringen konnte. Einfache Wahrheiten vermitteln konnte. Humor und Neugierde, liebe Menschen, lasst euch das gesagt sein. Das ist was wir brauchen. Amos Oz Stimme mag verstummt sein, aber seine Worte werden ewig leben.
Trauerrede von Präsident Reuven Rivlin für Amos Oz