
Etwa 22.000 Schweizer Staatsbürger leben in Israel. Wir haben drei von ihnen getroffen, um über ihr Leben, das Heimweh und neue Wege in einem anderen Land zu sprechen…
Agnes Shehade
„Die ehemaligen Häftlinge waren unsere Babysitter“
House of Grace ist das Lebensprojekt von Agnes Shehade, neben ihren gemeinsamen fünf Kindern, war es aber auch das erste Baby von ihr und ihrem mittlerweile verstorbenen Mann Kamil. Agnes, die in Zürich geboren und aufgewachsen ist, kam zum ersten Mal als junge Frau 1979 nach Israel – über einen palästinensischen Bekannten in der Schweiz und mit einem grossen Interesse für die Ostkirche. Ihr erster Besuch ist ihr bis heute in deutlicher Erinnerung geblieben: „Alles an Israel war speziell. Es war eine andere Kultur, eine andere Lebensart. Die Gerüche, die grellen Farben, das Licht, der Lärm, es gab überall so viel Aufruhr. Das Land war noch so jung und chaotisch. Es gab wenig Hilfen für Behinderte und andere benachteiligte Teile der Gesellschaft.“ Und trotzdem hat es Agnes Shehade nicht nur wahnsinnig gut gefallen, sie verliebte sich auch prompt in einen arabisch-christlichen Israeli.
In Kamil Shehade fand sie einen Mann, der, wie sie heute erzählt, „ein riesengrosses Herz hatte und viele Dinge ändern wollte“. Kamils Einsatz galt vor allem ehemaligen Häftlingen, die Schwierigkeiten hatten, ihren Weg zurück in die Gesellschaft zu finden. Und so ging Agnes ein Jahr nach ihrem ersten Aufenthalt im Land nicht nur nach Israel, um nicht nur mit Kamil zusammenzuziehen, sondern direkt auch mit ehemaligen Gefängnisinsassen, die ebenfalls bei ihnen wohnten. Das Paar heiratete 1981 und gründete nur ein Jahr später das „House of Grace“ in einer verlassenen Kirche in Haifas Altstadt. „Gemeinsam haben wir ein offenes Haus aufgebaut. Die Ex-Gefangenen lebten von Anfang an mit uns, bis heute teilen wir uns eine Küche. Kamil hat auch als Bauunternehmer gearbeitet und ihnen Arbeit verschafft. Wir haben einen Spielplatz vor die Kirche gebaut und die Ex-Gefangenen haben mit den Kindern gespielt und ihnen bei den Hausaufgaben geholfen. Sie waren auch die Babysitter für unsere eigenen fünf Kinder.“
Als Kamil im Jahr 2000 viel zu früh an Krebs starb, stand Agnes Shehade vor einer schwierigen Entscheidung: Sollte sie das House of Grace alleine weiterführen oder mit ihren Kindern gar in die Schweiz zurückgehen? Ihr jüngster Sohn war damals gerade erst 11 Jahre alt, aber ihre Kinder sprachen sich für’s Bleiben aus. Und Agnes hat die Entscheidung nie bereut, auch wenn sie bis heute die Schweizer Schokolade und die Kirchenglocken vermisst: „Ich fühle mich immer noch als Schweizerin, aber ich habe auch vieles aus der orientalischen Kultur angenommen. House of Grace ist mein Zuhause. Wir haben 14 Angestellte und neben der Unterkunft und den Rehabilitierungsmassnahmen für Ex-Gefangene auch weitere Projekte für armutsbetroffene Familien und Kinder. Meine fünf Kinder haben inzwischen schon selbst Kinder bekommen und alle kommen gerne hier zu uns. Klar, ist hier alles ein bisschen ungeordnet, aber dafür stehen unsere Türen immer offen.“

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Meni Gross
„Der kulturelle Clash hat mich geprägt“
Als Kind wollte Meni Gross nicht, dass sein Vater in Tel Aviv Schwiitzerdütsch spricht. Seine Mutter wiederum sollte in Zürich nicht laut auf hebräisch reden, heute lacht der 31-Jährige Schauspieler und Musiker, wenn er daran denkt. Geboren in Zürich als Kind einer israelischen Mutter mit irakischen Wurzeln und eines jüdischen Schweizer Vaters, ging Meni Gross mit seinen Eltern als Vierjähriger nach Israel. Nachdem seine Mutter dem Vater quasi ein Ultimatum stellte, weil es ihr in der Schweiz „einfach zu kalt“ war. Die Familie zog nach Tel Aviv. Der Beginn eines Lebens zwischen den Welten.

„Ich habe die Unterschiede immer sehr deutlich gefühlt, wie anders meine Schweizer Grosseltern waren, als meine israelischen. In der Schweiz gingen wir zu klassischen Konzerten, in die Oper, das Theater. Aber dafür hatte ich dort viel weniger Freiheiten als in Israel, wo auch die Menschen viel warmherziger waren. Für mich war das ein krasser kultureller Clash, der mich sehr geprägt hat. Meine Welt war immer schon ein bisschen grösser dadurch.“ Aufgewachsen zwischen den beiden Ländern sieht Meni heute, wie sehr seine Persönlichkeit von dieser Vielseitigkeit profitiert hat. Seit seinem 10. Lebensjahr spielt er Geige – die schweizerische Erziehung – seit seinen Teenager-Jahren liebt er Musik aus der Levante – die israelische Seite. Schon als Jugendlicher ging Meni Gross wöchentlich auf den Karmel-Markt und besorgte sich gebrannte CDs mit israelischer, so genannter Mizrachi-Musik (orientalisch-inspirierter Musik). Und auch sein eigenes Album, das er kürzlich erst herausgebracht hat, lebt von diesem Mix.
Noch ist er in Tel Aviv glücklich, kann sich aber auch vorstellen, irgendwann nach Berlin zu ziehen oder gar noch einen Master-Abschluss in Schauspiel in Zürich zu machen: „Momentan arbeite und kreiere ich vor allem in Israel, aber ich weiss ja seit meiner Kindheit, dass es soviel mehr da draussen gibt. Gerade für uns Künstler ist diese Offenheit wichtig und ich suche da immer nach neuen Sachen und Wegen.“
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Samuel Suter
„Israel lebt von Gegensätzen“
„Israel lebt ja von radikalen Gegensätzen. Es ist toll hier – und anstrengend. Einerseits ist es die Start-up Nation und es gibt Visionäre wie Sand am Meer – und andererseits so viele, die extrem rückwärtsgewandt sind. Es gibt hier Leute, mit denen man überhaupt nichts zu tun haben will, und gleichzeitig trifft man so viele tolle Menschen auf so engem Raum.“ Wenn Samuel Suter über Israel spricht, begeistert ihn vor allem wie aufregend das Land sei. In seiner Heimat der Schweiz sei dagegen alles so „eingepegelt und ausgependelt.“
Suter lebt seit Herbst 2011 in Israel. Dabei hatte er seine israelische Partnerin Gabi gerade mal erst ein paar Monate zuvor in Berlin zufällig in einer Bar kennengelernt. „Ich bin für eine Woche nach Tel Aviv gekommen, zu Besuch und weil ich Tel Aviv spannend fand – ich war schon mal als Jugendlicher auf einer Reise im Land und es hatte mir gut gefallen – und diese eine Woche hat alles verändert.“ Seine jetzige Frau fand dann eine Wohnung für sie in der Tel Aviver Baselstrasse, „Sie hat wohl gedacht: wo bringe ich den hin, damit er nicht gleich wieder umkehrt“, erinnert sich Suter lachend.
Während seine Frau als Kinderärztin im Krankenhaus arbeitet, ist Suter nach 10 Jahren, in denen er eine kleine Online Marketing-Agentur aufgebaut hat, jetzt seit fast 2 Jahren beim international wachsenden Umwelt-Start-up ECOncrete als Head of Marketing mit dabei. Er kennt die Start-up-Szene im Land gut und glaubt, dass die israelische Kultur ein Teil des Erfolgsgeheimnis ist: „In Israel läuft ja nichts ‚einfach so‘ – und von diesem Klima profitiert die High-Tech-Szene. Wenn du im Büro nicht immer mal wieder jemandem auf die Füsse trittst, und Fehler machst, und gegen Wände anrennst – dann denken die hier du gibst nicht alles.“
Mittlerweile hat das Paar mit seinen zwei Söhnen (7 und 4 Jahre alt) die Tel Aviver Baselstrasse verlassen und lebt in Herzliya. „Unsere Kinder gehen in die Steinerschule in Kfar HaYarok. Eine Schule, in der die Community gross geschrieben wird und das ist auch Israel für mich: dieser Gemeinschaftssinn, jedes Wochenende Grossfamilie…“
Die Familie denkt trotzdem immer wieder darüber nach, eventuell mal für ein Jahr in der Schweiz zu leben, nicht nur, weil dort die Grosseltern sind, sondern auch, weil Suter natürlich den Kindern auch gerne etwas von seiner Kultur mitgeben würde – und weil sie sich gerade im Moment schon manchmal fragen, wie es mit Israel weitergeht: „Die politische Situation ist nicht so, wie wir es uns wünschen. Es ist schwierig, seine Kinder aufwachsen zu sehen und nicht zu wissen, wo das Land steht wenn sie zur israelischen Armee gehen müssen…“
