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Kommentar zur Coronakrise: Die Israelis haben das Vertrauen verloren

in Israel Zwischenzeilen/Medizin & Wissenschaft

Etwa 45 Prozent aller Israelis, die positiv auf das Covid-19-Virus getestet wurden, geben bei der epidemiologischen Untersuchung an, keine Kontakte mit anderen Menschen gehabt zu haben. Das berichtet der israelische Fernsehsender Keshet 12. Wenn man bedenkt, wie wichtig diese Befragungen sind, wie zentral dafür, die Verbreitung des Virus einzudämmen und Ansteckungsketten zu unterbrechen, dann versteht man wie tragisch diese Nachricht ist. Vielmehr noch aber steht die Nachricht symptomatisch für etwas, was man in den vergangenen Wochen mehr und mehr in Israel beobachten konnte: Indem 45 Prozent der Israelis bei dieser Befragung lügen, verweigern sie schlichtweg ihre Kooperation mit den Behörden – viele Israelis haben das Vertrauen in die Maßnahmen zur Bewältigung des Virus verloren.

Während sich die Bevölkerung während des ersten Lockdowns geradezu vorbildlich an die sehr strengen Regeln hielt, ist die Motivation und Disziplin nach ständigem Hin und Her und zeitweise völliger Unklarheit darüber, was nun eigentlich noch erlaubt ist, im Keller. Dazu kommt Unverständnis darüber, dass gerade für die religiöse Minderheiten im Land andere Regeln zu herrschen schienen, als für den Rest der Bevölkerung. Schuld daran, dass ein Großteil der Bevölkerung mittlerweile auf die Regeln pfeift, ist auch eine Regierung, die sich seit Monaten in politischen Schlammschlachten und undurchsichtigen Entscheidungen verstrickt. Wenn mehrere Krankenhausdirektoren und auch der Corona-Beauftragte im Land eine Verschärfung des Lockdowns für unnötig halten – und dieser dann trotzdem durchgesetzt wird, wachsen in großen Teilen der Bevölkerung die Zweifel an den Gründen für diese Entscheidung. Nicht wenige vermuten, dass Premierminister Benjamin Netanyahu mit den verschärften Beschränkungen schlichtweg die Proteste gegen ihn unterbinden wollte, die seit Wochen vor seiner Jerusalemer Resident toben.

Und dann ist da natürlich noch die Sache mit der Disziplin: In einem Volk, in dem alle Regeln ständig hinterfragt werden und oftmals eher als Empfehlung, denn als Gesetz interpretiert werden, war es überhaupt überraschend, wie lange sich Israelis einigermaßen an die Regeln gehalten haben. Doch schon seit Wochen kann man in allen Teilen der Bevölkerung eine gewisse Ermüdung beobachten: Masken werden nicht richtig getragen, die Abstandsregeln werden kaum noch irgendwo eingehalten und egal, ob religiös oder säkular: auf Hochzeiten, volle Restaurants und Familienzusammenkünfte wollte man in den letzten Wochen immer seltener verzichten. Dabei sind die Zahlen immer besorgniserregender: Bei rekordhaften 8.000 Menschen wurde am Montag eine Infektion mit dem Corona-Virus festgestellt. Mittlerweile sind fast 1.500 Menschen an dem Virus gestorben (die Zahl liegt aktuell bei etwa 30 Toten pro 24 Stunden) und 763 Patienten im Land sind schwer erkrankt – das Gesundheitsministerium warnt, bis zum Ende der Woche könnte diese Zahl auf 1.500 ansteigen. Das wäre dann deutlich mehr als die 800 Schwererkrankten, die das israelische Gesundheitssystem angeblich schultern kann.

Benjamin Netanyahu beschuldigte währenddessen in seiner neusten Ansprache die israelischen Medien, die das Corona-Virus als „einfache Grippe verharmlost“ hätten, räumte aber auch Fehler ein, wie die zu frühe Öffnung von Veranstaltungshallen. Vielleicht ist das ein Anfang, um das Vertrauen seines Volks zurückzugewinnen.

Redakteurin Katharina Höftmann Ciobotaru arbeitete im Auslandsbüro der dpa in Tel Aviv und für die WELT ONLINE. Sie lebt als freie Journalistin und Buchautorin in Tel Aviv («Guten Morgen Tel Aviv», «Die letzte Sünde»).

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