MAGAZIN – LEBEN IN ISRAEL

Kolumne: Olympia, Wir und die Welt

in Israel Zwischenzeilen/Leben, Kultur & Sport

Ich sitze mit meinen Kindern und meinen Eltern im Auto und fahre über die Insel Rügen an der Ostsee. Im Radio redet die Sprecherin etwas von Olympia und davon, dass Deutschland Bronze im gemischten Judo gewonnen hätte. „Hä?“, rufe ich von hinten, „Das haben doch wir gewonnen!?“ Meine Eltern zucken vorne kurz zusammen und ich auf der Rückbank auch. Wer ist denn jetzt wir? Für sie ist „wir“ Deutschland und für mich anscheinend Israel? (Die Auflösung ist übrigens, beide Länder haben Bronze gewonnen).

Gleiches Thema: Vor Kurzem sagte meine beste Freundin (ebenfalls Deutsche) etwas abfällig zu mir, „Deutsche leben fünf Jahre im Ausland und denken dann sofort, sie seien keine Deutschen mehr.“ Und darin steckt so viel Wahres, was sich irgendwie auch widerspricht: 1. Viele Deutsche sind froh, wenn sie das Deutschsein ein bisschen loswerden können. 2. In Deutschland ist Deutschsein (oder zu irgendeinem anderen Land zugehören), sehr eng definiert. Nicht wenige Deutsche tun sich immer noch schwer damit, Menschen, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben, zum Teil dort geboren sind, aber deren Eltern oder Wurzeln eben woanders liegen, als „Deutsche“ zu bezeichnen. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass viele Deutsche ihre Heimat immer noch nicht als das Einwanderungsland wahrnehmen, das es mittlerweile ist und dass Deutschland, anders als Länder wie z.B. die USA, eben auch lange kein klassischer Melting Pot war. Umgekehrt verstehen Deutsche nicht, dass man sich in einem Land zugehörig fühlen kann, in dem man nicht geboren oder aufgewachsen ist.

In Israel funktioniert Israeli sein anders. Dort hat noch niemand, und das meine ich so, niemand (!) angezweifelt, dass ich echt Israeli und auch gleichzeitig echt Deutsche sein kann. Das ist nämlich in Israel normal. Dass Menschen mehr als eine Staatsbürgerschaft haben, und mehr noch, dass sie erst seit ein paar Jahren, Monaten, Wochen, in Israel leben und sich trotzdem ganz und gar israelisch fühlen. Hilft natürlich, wenn man jüdisch ist, das möchte ich nicht verheimlichen. Und da kommen wir übrigens auf ganz natürlichem Wege zum Thema Olympia zurück und auch zu dem, woran es in Israel krankt: Viele der Olympioniken, die Israel für erhoffte Medaillen nach Tokio geschickt hat, kommen ursprünglich aus der ehemaligen Sowjetunion. So auch Artem Dolgopyat, der in Tokio die erste Goldmedaille für den Jüdischen Staat gewonnen hat (erst das zweite Mal Olympia-Gold für Israel überhaupt). Der Turner Dolgopyat ist erst 2009 mit zwölf Jahren aus der Ukraine nach Israel eingewandert. Er wusste bis zu diesem Zeitpunkt nicht mal richtig, dass die komplette väterliche Seite seiner Familie überhaupt jüdisch ist. Denn, es reicht, wenn auch nur ein Grosselternteil jüdisch ist, um in Israel einwandern zu dürfen. Halachaisch ist aber nur jüdisch, wer eine jüdische Mutter hat oder übergetreten ist.

Dolgopyats Mutter hat die Goldmedaille dann auch gleich zum Anlass genommen, in einem Interview klarzustellen, dass ihr Sohn in seinem Heimatland Israel jetzt zwar frenetisch gefeiert wird, aber dort gleichzeitig nicht einmal heiraten dürfe. Weil es bekanntermassen in Israel keine Zivilehe gibt und deshalb nur religiöse Eheschliessungen möglich sind. Das ist nämlich das grosse Paradox in Israel: Man nimmt Leute sehr schnell als Israelis an, aber das mit dem Jüdisch sein ist sehr viel komplizierter. Ich finde sie hat damit den Moment des Erfolgs hervorragend für eine wichtige Botschaft genutzt. Auf dass dies die letzte Olympiade ohne Zivilehe im jüdischen Staat sein wird. Aber jetzt freuen wir uns erstmal über zweimal Bronze und einmal Gold. Für ein grosses, Leistungssport-erfahrenes Land wie Deutschland ist das natürlich eine kümmerliche Bilanz, und auch deswegen juble ich umso lieber für Israel.

Wenn du zu dem Land gehörst, dem zu Beginn der Olympiade wegen des schlimmen Terroranschlags in München 1972 gedacht wird (elf Israelis wurden damals umgebracht), wenn du zu dem Land gehörst, dessen Sportler auch bei diesem Wettkampf wieder mit anderen Athleten konfrontiert waren, die nicht gegen sie antreten wollten – dann freust du dich extra enthusiastisch über jeden Erfolg. Und ja, auch das gehört zum Israeli sein. Es stärkt diesen ganz besonderen Patriotismus, ein Gefühl, fast unerklärlich, wenn man es nicht selbst erlebt hat.

Artem Dolgopyat nach dem Gewinn der Goldmedaille in Tokio

Redakteurin Katharina Höftmann Ciobotaru arbeitete im Auslandsbüro der dpa in Tel Aviv und für die WELT ONLINE. Sie lebt als freie Journalistin und Buchautorin in Tel Aviv («Guten Morgen Tel Aviv», «Die letzte Sünde»).

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