MAGAZIN – LEBEN IN ISRAEL

Kolumne: Die Tage der Hoffnungslosigkeit

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Nach sechs Wochen in Europa bin ich Anfang September nach Tel Aviv zurückgekommen. Normalerweise freue ich mich immer sehr, wenn ich nach langen Reisen wieder zu Hause bin. Mein Bett. Meine Stadt. Meine Freunde. Mein Wetter. Mein Leben. Aber dieses Mal fühlt sich alles schwer an. Wohin ich auch schaue, sehe ich Hoffnungslosigkeit. Der Krieg will nicht enden. Er steckt uns in den Knochen und will nicht mehr raus. Niemand, nicht die Hamas, und auch nicht die israelische Regierung, scheint ein Interesse am Ende dieses Krieges zu haben. Und natürlich darf man dabei nicht Ursache und Wirkung verwechseln (nur weil die Menschen gegen Bibi demonstrieren, heisst das nicht, dass sie nicht wissen, dass die Hamas die Definition des Bösen ist…Nein, sie demonstrieren, weil sie von der Regierung erwarten, dass sie sie vor diesen Monstern schützt!) – aber für uns, die Menschen in Israel, ist es am Ende egal, warum dieser Krieg nicht aufhört.

Durchhalten – seit fast einem Jahr

Wenn ich höre, wie uns der Armee-Chef auffordert, jetzt durchzuhalten, auch noch den Krieg mit der Hisbollah durchzuhalten, dann kann ich nur müde nicken. Wir halten durch. Wir halten seit fast einem Jahr durch. Und von allen am meisten halten die Geiselfamilien durch. Sie bitten und betteln seit fast einem Jahr darum, gehört zu werden. Sie hoffen und bangen und beten seit fast einem Jahr darum, ihre Lieben wiederzusehen. Während der Fokus auf den Norden des Landes wandert, stehen sie auf der Stelle. Seit fast einem Jahr schon. Kann sich irgendjemand vorstellen, wie sich das anfühlen muss? Fast ein Jahr nichts von der Tochter, dem Sohn, dem Mann, den Neffen, dem Bruder, der Schwester zu hören? Zu wissen, dass sie unter den brutalst-möglichen Umständen entführt wurden und seitdem Tag für Tag durch die Hölle gehen. Etwa die Hälfte der rund 100 Geiseln in Gaza soll noch am Leben sein. Das sind 50 Menschenleben. 50 Familien. 50 eigene Universen, die es gilt, zu retten.

Traurige Begrüssung: Poster der entführten Geiseln am Flughafen in Israel (Bild: KHC).

Während nun auch noch der Krieg mit der Hisbollah eskaliert, schwindet jede Hoffnung auf einen Waffenstillstand mit der Hamas. Die Hoffnungslosigkeit, sie ist unendlich.
Passend zu diesem Gefühl begann ich letzte Woche ein neues Buch zu lesen. Ron Leshem, ein sehr bekannter israelischer Schriftsteller und Journalist, dessen Familie aus dem Kibbuz Beeri stammt, hat im deutschen Rowohlt-Verlag ein Buch über den 7. Oktober veröffentlicht. Es heisst „Feuer“. Gleich auf den ersten Seiten zieht er eine Schlussfolgerung, die mich ehrlich gesagt in Panik versetzte. Er vergleicht die Situation der deutschen Juden in den 30er Jahren mit dem heutigen Israel. Aber nicht auf die Art und Weise, wie man denken könnte. Nein, er schreibt darüber, wie die Menschen damals nicht rechtzeitig rauskamen, weil sie die Zeichen nicht sahen oder ernst genug nahmen. Und darüber, wie Israelis heute vielleicht auch nicht die Zeichen sehen, dass ihr Land auf dem Weg ins Verderben ist. Von innen und von aussen: „Jeder Mensch muss sich immer fragen- hätte ich Deutschland und Europa rechtzeitig verlassen? Oder wäre ich geblieben, arglos und die Realität verdrängend? Ziehst du deine Kinder an einem unsicheren Ort gross, oder ist es an der Zeit, aufzubrechen, Ozeane zu überqueren und nach einem weniger gefährlichen Nest zu suchen.“

Wo sollen wir denn hin?

Ron Leshem hat bereits vor zehn Jahren auf sich selbst gehört und Israel mit seinem Partner und den Kindern verlassen. Er lebt seitdem in den USA. Übrigens das Land, in dem antisemitisch-motivierte Verbrechen im vergangenen Jahr um 63 Prozent auf ein All-Zeit-Hoch angestiegen sind. Ich lächele noch einmal müde. Die Hoffnungslosigkeit. Wo sollen wir denn hin? Der Gedanke, dass Israel ein sinkendes Schiff ist, ist ein Gedanke, den ich momentan nicht ertragen kann um ehrlich zu sein. Zumindest nicht, solange wir noch knietief in diesem Krieg stecken. Ich lege das Buch zur Seite, aber die Zweifel, die Zweifel sie bleiben.

Sind wir die wahren Zionisten, weil wir das sinkende Schiff nicht verlassen, sondern uns gegenseitig Rettungswesten anlegen und versuchen, das Schiff in Sicherheit zu bringen – gegen alle Widerstände? Oder sind wir die Narren, die hier für ein Land zu Grunde gehen, das den Kampf der jahrhundertelangen Verfolgung eigentlich beenden sollte?

Redakteurin Katharina Höftmann Ciobotaru arbeitete im Auslandsbüro der dpa in Tel Aviv und für die WELT ONLINE. Sie lebt als freie Journalistin und Buchautorin in Tel Aviv («Guten Morgen Tel Aviv», «Die letzte Sünde»).

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