MAGAZIN – LEBEN IN ISRAEL

„Das Land wacht nicht auf“

in Israel Zwischenzeilen/Leben, Kultur & Sport

„Es gibt eine unfassbare, anhaltende Welle der Gewalt in diesem Land, vor allem in den arabischen Gemeinden. Und es tut mir leid, das zu sagen, aber das Land wacht nicht auf“, Yair Revivo, Bürgermeister der kleinen Stadt Lod, ist verzweifelt. „Wenn diese Anzahl von Morden in der jüdischen Gemeinde passieren würde, käme das Land zum Stillstand“, sagte er als kürzlich in seiner Stadt eine Frau und ihre Tochter kaltblütig ermordet wurden, „Das ist eine Verletzung der Sicherheit aller Einwohner des Landes – Juden und Araber gleichermassen – und was mich wütend macht und mein Blut zum Kochen bringt, ist, dass diese abscheulichen Mörder keine Hemmungen haben. Es handelt sich nicht um Kriminelle, die Kriminelle töten, sondern um Menschen, die hilflos und unfähig sind, sich zu verteidigen, und das ist einfach schrecklich.“

Nicht weit von einer Polizeidienststelle waren die 34-Jährige Manar Hajaj und ihre 14-Jährigen Zwillingstöchter dabei, Lebensmittel aus ihrem Auto auszupacken, als sie und ihre Tochter Khadra aus nächster Nähe erschossen wurden. Die zweite Tochter wurde auf ihrer Flucht vor dem Angreifer ins Bein geschossen, so der Bericht. Und auch wenn die Polizei vermutet, dass der Angriff Hajajs Mann galt, einem stadtbekannten Kriminellen, diese Tat ist abscheulich, vor allem aber macht sie ein Problem sichtbar, dem Israel einfach nicht Herr wird: 71 arabische Bürger wurden seit Beginn des Jahres im Land ermordet. Erst vor wenigen Tagen erschoss ein Unbekannter den arabischen Journalisten Nidal Aghbariya, der die Newsseite Bldtna leitete.

Es war nicht das erste Mal, dass auf Aghbariya geschossen wurde: Bereits vor einem Jahr überlebte er einen Angriff. Doch weder bekam er Personenschutz, noch wurden die Attentäter festgenommen. „Nidal wurde umgebracht, weil die israelische Polizei unfähig ist“, schrieb die Partei Hadash in einer Erklärung, „Die Ermordung eines Journalisten ist ein ein Versuch, die Stimmen des arabischen Protests gegen Gewalt und Verbrechen zum Schweigen zu bringen. Die israelische Polizei muss aufhören, die arabische Gesellschaft zu vernachlässigen, sie müssen die Waffen von den Strassen holen und die abscheulichen Mörder vor Gericht bringen.“

Die Wut der arabischen Bevölkerung und all derjenigen, die in jüdisch-arabisch gemischten Städten leben, ist mehr als verständlich. Das Gewaltproblem, die Auftragsmorde, die Frauenhinrichtungen sind seit Jahren in Israel präsent. Aber so lange sich keine der arabischen Waffen auf Juden richtet, finden weder engagierte Fahndungen statt, noch gibt es einen grossen Aufschrei im Land. Viele arabische Gemeinden sind extrem unterfinanziert, und so gibt es nicht nur keine Jugendzentren sondern vielerorts scheint sich auch die Polizei komplett zurückgezogen zu haben.

Der Minister für öffentliche Sicherheit, Omer Barlev, unterstrich in einer Erklärung die Untätigkeit der Regierung in den vergangenen Jahren und erklärte, dass „Jahre der Vernachlässigung Jahre der Korrektur erfordern. Die Morde in Umm al-Fahm an dem Journalisten Nidal Aghbariya und in Lod an Manar Hajaj und ihrer Tochter Khadra – neben der Schiesserei in Taibe, die die Polizei derzeit untersucht – beweisen leider einmal mehr, dass der Kampf gegen das Verbrechen in der arabischen Gesellschaft schwierig und komplex ist und einen sehr langen Zeitraum aggressiver und entschlossener Polizei- und Strafverfolgungsmassnahmen erfordert“, so Barlev. „Dies geht Hand in Hand mit grossen Investitionen in Bildung, Wohlfahrt und Arbeitsplätze sowie einem Wandel der kulturellen Wahrnehmung.“

Für Manar Hajaj und ihre Tochter Khadra, für den Journalisten Nidal Aghbariya und für fast 70 weitere arabische Israelis wird dieser Wandel, wann auch immer er endlich eintritt, in jedem Fall zu spät kommen.

In Lod sind eine Mutter und ihre Tochter erschossen worden: Israel hat ein Gewaltproblem
(Bild: Israelische Polizei)

Redakteurin Katharina Höftmann Ciobotaru arbeitete im Auslandsbüro der dpa in Tel Aviv und für die WELT ONLINE. Sie lebt als freie Journalistin und Buchautorin in Tel Aviv («Guten Morgen Tel Aviv», «Die letzte Sünde»).

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