MAGAZIN – LEBEN IN ISRAEL

Kommentar: Impfung ja, Freiheit nein

in Israel Zwischenzeilen/Leben, Kultur & Sport

Die Welt schaut mit Bewunderung auf Israel: Innerhalb kürzester Zeit hat es der kleine jüdische Staat geschafft, fast fünf Millionen seiner Bürger zu impfen. Während in Ländern wie Deutschland selbst Menschen über 70 noch nicht einmal einen Termin zur Impfung erhalten haben, impft Israel bereits fleissig Schüler und im Prinzip alle über 16, die bereit sind, sich impfen zu lassen. „Israel kündigt Lockerungen ab April an“, hiess es dann auch vor Kurzem in vielen deutschen Zeitungen und mein Telefon hörte ob der vielen Nachrichten von deutschen Freunden und Familienmitgliedern, die ihre Freude für uns, aber auch ihren Neid ausdrückten, gar nicht mehr auf zu piepen. Das Komische daran: Wir in Israel können dieses Gefühl des Enthusiasmus‘ nur sehr begrenzt teilen.

Als die Impfkampagne losging, war das noch anders. Man war stolz auf dieses kleine Land, das es wirklich schaffte, seine Bürger mit dem wohl am dringendsten erwarteten Impfstoff der letzten Jahrzehnte zu versorgen. Vor allem aber freute man sich wie verrückt auf die Lockerungen. Endlich wieder Restaurants, endlich wieder Bars, endlich wieder fliegen. Vor allem für die säkulare Bevölkerung, die sich im Grossen und Ganzen seit nunmehr einem Jahr relativ gut und streng an die Corona-Bestimmungen gehalten hat, waren die Impfungen das Licht am Ende des Tunnels. Mittlerweile sind wie gesagt fast 5 Millionen von 8,8 Millionen Einwohnern geimpft – ein wahnsinniger Erfolg! Und die Restaurants? Weiterhin zu. Der Flughafen? Schon seit mehr als fünf Wochen geschlossen. Theater? Pustekuchen. Lediglich Geschäfte, Fitnesscenter und Museen durften unter genauen Hygienebestimmungen wieder öffnen. Und als an Purim Menschenmengen in den Strassen von Tel Aviv feierten, wohlgemerkt die erste Verfehlung der säkularen Gesellschaft in grösserem Ausmass seit Beginn der Pandemie, drohten die Verantwortlichen im Gesundheitsministerium sofort mit einem scharfen Lockdown über Pessach.

Impfweltmeister und trotzdem neue Lockdowns?

Ein Lockdown über Pessach? Pessach findet in diesem Jahr Ende März statt. Bis dahin werden dreiviertel der israelischen Bevölkerung geimpft sein. Was genau bringt diese Impfung, wenn wir weiterhin ständig in Unsicherheit vor neuen scharfen Lockdowns leben? Vom „grünen Reisepass“, der Köder zu Beginn der Impfkampagne, ist mittlerweile keine Rede mehr. Stattdessen ist der Flughafen dicht. Der Tourismus liegt weiterhin am Boden. Stattdessen machen Meldungen die Runde, dass auffällig viele ultraorthodoxe Juden Ausnahmegenehmigungen zur Einreise nach Israel erhalten, während andere Israelis draussen bleiben müssen. Einige Einreisegenehmigungen seien auf Basis von gefälschten Dokumenten erteilt worden, verkündete kürzlich ein israelischer Fernsehsender – wie kann so etwas passieren? In einem Land, das sich als Start-up-Nation brüstet und Erfahrungen in der Terrorismusbekämpfung hat, wie kein anderes, reisen Menschen mit gefälschten Genehmigungen ein?

Aber ganz abgesehen davon, ob die Ausnahmegenehmigungen der Einreisen nun berechtigt sind oder nicht: Die Entscheidung, seit fünf Wochen die eigenen Staatsbürger nicht einreisen zu lassen, ist eine Entscheidung, die es in keinem anderen demokratisches Land gegeben hat. Und bei aller berechtigter Angst vor Mutationen, muss diese Entscheidung diskutiert werden. Es muss diskutiert werden, warum es kein einheitliches System zur Quarantäne für Ankommende gibt. Es muss diskutiert werden, wie der internationale Tourismus jemals wieder in das Land zurückkehren soll, in dem viele Teile der Bevölkerung vom Tourismus leben. Es muss diskutiert werden, wie israelische Bürger, deren Familien im Ausland leben, und davon gibt es im Einwanderungsland Israel nicht gerade wenige, diese wieder besuchen oder empfangen dürfen.

Wir brauchen Transparenz

Aber wie es so oft bei dieser aktuellen israelischen Regierung ist – das Thema Flughafen wird erst jetzt langsam diskutiert, wo Medien und Öffentlichkeit immer wütender werden. Wo erste Zweifel laut werden, dass die Flughafenschliessung in Wahrheit ein Mittel ist, um säkulare Israelis von der Wahl auszuschliessen (die Wahl findet am 23. März statt und wählen kann nur, wer physisch vor Ort in Israel ist), während die ultraorthodoxen Wähler hereingelassen werden – wohlmöglich weil ihre Stimmen einem Benjamin Netanyahu mehr nützen, als die anderen.

„Viele Israelis sind gegen ihren Willen Flüchtlinge in anderen Ländern geworden. Viele sind in schwierigen Situationen. Dazu gehören schwangere Frauen, ältere Menschen und Mütter, die ihre Kinder seit langer Zeit nicht gesehen haben. Es gibt Menschen, die mittlerweile kein Geld mehr haben. Das sind Israelis, für die wir verantwortlich sind. Wir können sie nicht im Stich lassen“, appellierte dann auch Pnina Tamano-Shata, Ministerin für Immigration, in dieser Woche an ihre Kollegen in der Knesset. Aber ich möchte diesen Gedanken noch weiterführen, auch die Israelis im Land dürfen nicht länger im Stich gelassen werden. Es ist klar, dass wir alle diesen Krieg gegen ein Virus namens Covid-19 zum ersten Mal führen, dass nicht alle Entscheidungen mit grosser Vorlaufzeit getroffen werden können, aber es braucht dringend Transparenz, wie es zu bestimmten Entscheidungen kommt. Vor allem aber braucht es in einem Land mit einem Grossteil an geimpften Menschen einen wirklichen hoffnungsvollen Ausblick – sonst brauchen die Verantwortlichen sich nicht wundern, wenn ein Grossteil der Bevölkerung sich nicht mehr an die Regeln hält.

Reisende bei ihrer Ankunft am leeren Flughafen in Tel Aviv (Bild: KHC).

Weitere Informationen:

Diskussionen über Plan zur Flughafenöffnung (eng), Times of Israel

Redakteurin Katharina Höftmann Ciobotaru arbeitete im Auslandsbüro der dpa in Tel Aviv und für die WELT ONLINE. Sie lebt als freie Journalistin und Buchautorin in Tel Aviv («Guten Morgen Tel Aviv», «Die letzte Sünde»).

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