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Besuch im Kibbuz Nir Am: „Sie haben einfach nicht aufgegeben“

in Israel Zwischenzeilen/Leben, Kultur & Sport

Wenn man aus dem westlichen Tor von Nir Am tritt, ist man schon fast in Gaza. Einen Hügel hoch, ein paar 100 Meter über die Felder, zehn Gehminuten, vielleicht auch nur acht, und man wäre da. Man kann den Streifen von hier gut sehen. Und wenn der Wind richtig steht, hört man natürlich auch den Muezzin. Dass Nir Am, im Gegensatz zu den meisten Kibbuze an der Grenze, die immer noch zerstört und verwaist brach liegen, heute wieder voll bewohnt ist, grenzt an ein Wunder. Ein Wunder – und zugleich ein Zeichen des unbeugsamen Kampfgeistes an dem schlimmsten Tag in Israels Geschichte. „Wir verdanken unser Leben den Soldaten, die Nir Am am 7. Oktober verteidigt haben. Sie haben einfach nicht aufgegeben diese jungen Männer, haben immer wieder entschieden, weiterzukämpfen. Und deshalb sind wir heute hier. Viele Menschen in unserer Region haben das Gefühl, von der Armee völlig im Stich gelassen worden zu sein. Und dann fühle ich mich oft schlecht – denn uns, uns hat sie gerettet“, sagt Ilit Raz, die im Kibbuz für die Kultur zuständig ist. Raz lebt seit vielen, vielen Jahren in Nir Am. Sie hat sich schon als Jugendliche in den Kibbuz verliebt und als sie einen Mann kennenlernte, der aus Nir Am stammte, heiratete sie ihn.

Was am 7. Oktober passierte, hielt niemand für möglich

Am 7. Oktober wachte sie, wie ein grosser Teil Israels, um 6:30 Uhr morgens mit den Raketenalarmen auf. In Nir Am wurde schnell klar: Das hier ist mehr als ein normaler Raketenangriff der Hamas. Nir Am kennt sich mit der Gefahr aus. Terroristen der radikal-islamistischen Hamas waren bereits 2014 über ihr Tunnelsystem in direkter Nähe von Nir Am nach Israel eingedrungen, auch unter vielen Bränden, ausgelöst durch die sogenannten Feuerdrachen aus Gaza, hatte Nir Am in der Vergangenheit gelitten. Was aber am 7. Oktober passierte, hatte auch im kriegserprobten Nir Am niemand für möglich gehalten.

Der Kibbuz Nir Am an der Grenze zu Gaza (Bild: Baruch Niv Pikiwiki Israel, Commons Wikimedia).

Mindestens 65 schwer bewaffnete Terroristen versuchten an diesem Tag, in den Kibbuz zu stürmen. Gegen 6:30 Uhr trafen erste Meldungen über das Eindringen von Terroristen auf israelisches Staatsgebiet ein. Daraufhin erstellte die Chefin der Sicherheitstruppe des Kibbuz, Inbal Lieberman, einen Schlachtplan zur Verteidigung des Kibbuz. Dazu muss man wissen, dass alle Kibbuze an der Grenze zu Gaza eine eigene Sicherheitstruppe haben, aber die meisten waren am 7. Oktober nur schlecht ausgestattet. Auch im Waffenraum von Nir Am war die Ausrüstung knapp, gerade einmal elf Waffen konnte das Verteidigungsteam zusammenbasteln. Als aufgrund des Raketenbeschusses die Stromversorgung unterbrochen wurde, befiehlt Lieberman, den Generator des Kibbuz nicht einzuschalten, um zu verhindern, dass die Tore des Kibbuz geöffnet werden könnten.

Ilit Raz im Kibbuz Nir Am (Bild: KHC).

Während Ilit Raz im Haus mit ihren beiden Kindern und dem Familienhund Dschini, einer Golden-Retriever-Dame, versucht, die Ruhe zu bewahren, kämpft ihr Mann in der Sicherheitstruppe stundenlang gegen die Terroristen, die sich schliesslich auf dem Hügel am Westtor in einem Hühnerstall verschanzen. Sie entführten den israelischen Beduinen Samer Fuad al-Talalka, der dort arbeitete und später tragischerweise durch einen fatalen Fehler der israelischen Armee in Gaza erschossen wurde. Der Kampf um Nir Am dauert 18 Stunden, es ist einer der wenigen Kibbuze, den die Armee schliesslich erreicht und unter vielen Verlusten bis zum Letzten verteidigt.

Wenn man heute durch Nir Am läuft, kann man sich kaum vorstellen, was hier am 7. Oktober los war. Überall grünt und blüht es, die Wege sind liebevoll angelegt, die Häuser gepflegt und mittags, nach Schulschluss, laufen Kinder durch den ganzen Kibbuz. Die wenigen Bereiche, in denen Reparaturen nötig sind – wie am Hühnerhof, der nun komplett renoviert wird – sind von arabischen Bauarbeitern besetzt. Für viele Bewohner war es nach dem 7. Oktober nicht leicht, ihre Sprache zu hören. „Aber so ist es nun einmal, sie gehören zu unserem Land“, sagt Ilit entschieden.
Ilit Raz fiel die Rückkehr in den Kibbuz nicht leicht: „Als wir das erste Mal nach dem 7. Oktober nach Nir Am zurückkehrten, konnte ich nicht schlafen. Ich hörte die Kriegsgeräusche aus Gaza und drängte meine Familie, den Kibbuz wieder zu verlassen.“ Ilits Familie hat seither eine Odyssee durch das Land hinter sich – Monate lebten sie in einem kleinen Hotelzimmer in Tel Aviv, aber auch in den USA und bei Raz’ Familie in Nes Ziona. „Ich wollte den Kindern unbedingt eine Alternative aufzeigen, doch sie wollten immer nur zurück nach Nir Am. Als ich sie in der vierten neuen Schule anmelden musste, sprachen sie ein Machtwort. Und so kehrten wir zurück.“

Ein regelrechter Babyboom

Heute leben mehr Menschen in Nir Am, als vor dem 7. Oktober. Noch in den Hotels erlebte der Kibbuz einen regelrechten Babyboom: 25 Kinder wurden dort geboren. Der bekannte Chefkoch Eyal Shani will in dem Kibbuz ein Spitzenrestaurant und ein luxuriöses Boutique-Hotel mit 55 Zimmern eröffnen. Nir Am liegt strategisch günstig etwa 55 Minuten von Tel Aviv entfernt und in Gehweite zum Bahnhof Sderot. Das Hotel soll ein Tor für Besucher der Region werden. „Wir hoffen, dass das Hotel nicht nur israelische Touristen, sondern auch internationale Besucher anzieht“, so Roi Ben Yehud, der Business Director des Kibbuzes. Und auch Ilit Raz ist voller Pläne, um den Kibbuz und das Leben dort noch schöner zu machen.

Kinder laufen durch den Kibbuz Nir Am (Bild: KHC).

Eine ihrer ersten wichtigen Amtshandlungen war die Organisation der Feierlichkeiten zu Tu Bishvat, dem jüdischen Fest für Bäume. Auf einer Bühne direkt neben dem Eingangstor des Kibbuz sang der Kinderchor das bekannte israelische Lied: „Lo tenazchu oti“, „nein, nein, nein, ihr werdet mich nicht besiegen, ihr besiegt mich nicht so schnell.“ Ilit Raz hat immer noch Tränen in den Augen, wenn sie darüber spricht. Sie ist froh, wieder zu Hause zu sein. Einschlafen kann sie trotzdem oft nicht: „Die Gefahr ist ja nicht für immer gebannt und wenn uns jetzt etwas passiert, könnte ich mir nie verzeihen.“

Redakteurin Katharina Höftmann Ciobotaru arbeitete im Auslandsbüro der dpa in Tel Aviv und für die WELT ONLINE. Sie lebt als freie Journalistin und Buchautorin in Tel Aviv («Guten Morgen Tel Aviv», «Die letzte Sünde»).

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