MAGAZIN – LEBEN IN ISRAEL

Kolumne: Rote Linien gibt es nicht mehr Israel wartet auf den Angriff – seit zwei Wochen

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Ich erinnere mich an Zeiten, als ein Raketenangriff auf Tel Aviv die „rote Linie“ darstellte. Das war 2012, im November. Ich lebte seit fast drei Jahren in Tel Aviv und Raketen auf die Stadt – das hatte es damals zuletzt zum Golfkrieg gegeben und war für viele Israelis unvorstellbar. Denn seit dem Golfkrieg war Tel Aviv die „rote Linie“ gewesen und Terroristen in Gaza und im Libanon wussten, Tel Aviv wird nicht angegriffen, denn das würde eine unfassbare Eskalation bedeuten. Bis es dann in eben diesem November passierte. Ich weiss noch, wie ich zitternd im Hausflur mitten in Tel Aviv hockte, in die ebenfalls erstaunten Gesichter meiner Nachbarn schaute und dachte: „Rote Linie, ha?“ Seitdem gehören regelmässige Raketenangriffe auf die Mittelmeermetropole zu unserem Leben. Raketen auf Tel Aviv, das war mal die rote Linie. Nur 12 Jahre später sind sie normal geworden.

Überhaupt sind mit dem 7. Oktober und allem was danach folgte, rote Linien vom Tisch. Alles scheint seitdem möglich zu sein. Als der Iran Israel im April zum ersten Mal in der Geschichte von seinem eigenen Staatsgebiet mit hunderten Drohnen und Raketen attackierte, war das auch für viele Israelis ein neues Ausmass der Eskalation – aber überrascht hat es wohl kaum jemanden im Land. Die Eskalation ist jetzt unser Normalzustand – so fühlt es sich zumindest an. Dabei ist nichts an diesem, unseren Leben in Israel, noch normal.

Und so ist es auch unnormal-normal, dass Israelis seit fast zwei Wochen bangen, erneut vom Iran, und dieses Mal eventuell auch grossflächig von der Hisbollah, die ja im Norden des Landes schon seit dem 7. Oktober konstant angreift, beschossen zu werden. Es ist unnormal-normal, dass man sowieso seit Monaten keine Pläne mehr in Israel machen kann. Dass Schule oder Ferienprogramme ständig in Gefahr sind, weil der Krieg wieder eskaliert oder eskalieren könnte. Dass es kaum noch Flüge ins Land oder hinaus gibt. Jetzt wurde bekannt, dass im Falle eines längeren Angriffs durch Iran und/oder Hisbollah der Ben Gurion Flughafen durch den kleineren, aber besser geschützten Ramon-Flughafen in Eilat ersetzt werden soll. Meldungen wie die, dass das Israel-Museum wertvolle Exponate von den Wänden genommen hat, um sie besser vor Raketen schützen zu können, gehen da fast schon unter. Das normale Leben in Israel gibt es so nicht mehr. Mal ganz abgesehen von den vielen betroffenen Menschen im Land, die am 7. Oktober oder im Krieg danach Angehörige verloren haben oder deren Liebste immer noch als Geiseln in Gaza gefangen sind.

Kein normales Leben, so lange die Geiseln nicht wieder zu Hause sind (Bild: KHC).

Israelische Psychologen warnen seit Monaten vor unbewältigbaren Zahlen von Menschen mit postraumatischen Belastungsstörungen. Die israelische Wirtschaft funktioniert zwar in weiten Teilen wieder recht gut, weil Israelis mit ihrer hohen Resilienz daran gewöhnt sind, immer weiter zu machen, aber auch dort stehen dunkle Wolken am Horizont. Der Staat wird all die horrenden Ausgaben für diesen Krieg irgendwie wieder reinholen müssen. Und als die Ratingagentur Fitch vor kurzem die Kreditwürdigkeit Israels von A+ auf A herabstufte, reihte sie sich in die Einschätzung anderer Ratingagenturen ein. Der Ratingausblick wurde von Fitch negativ gehalten, was bedeutet, dass eine weitere Herabstufung möglich ist.

Als Begründung dafür erklärte Fitch, dass der jetzige Krieg sich noch weit bis in 2025 hineinziehen könnte. Ein so langer Krieg wäre eine weitere Sache auf der Liste der Dinge, die es so noch nie in Israel gab. Die Eskalation ist jetzt Normalzustand, das ist ein Fakt. Aber wie lange Israel und vor allem seine Bürgerinnen und Bürger das noch durchhalten, das ist die Frage.

Redakteurin Katharina Höftmann Ciobotaru arbeitete im Auslandsbüro der dpa in Tel Aviv und für die WELT ONLINE. Sie lebt als freie Journalistin und Buchautorin in Tel Aviv («Guten Morgen Tel Aviv», «Die letzte Sünde»).

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