2023 ist vorbei, und damit das Jahr, welches von vielen Israelis als das schwerste Jahr in der Geschichte des Landes bezeichnet wird. 2023, ein Jahr, das in die Geschichtsbücher eingehen wird. Am 7. Oktober wurden in Israel soviele Juden an einem Tag ermordet, wie zuletzt in der Shoa. Die Bilder vom 7. Oktober, die Hamas-Jeeps, die schwerst bewaffnet und mordend durch israelische Strassen fahren, die erschütternden Videos von Go-Pro-Kameras der Terroristen, die Blicke der ängstlichen Israelis, die entweder kurz vor ihrem Tod stehen oder gerade entführt werden, die Berichte von brutalen Vergewaltigungen und Folter – nichts davon werden Israelis je vergessen können. Das Gefühl der Sicherheit, das so viele in Israel trotz allem immer empfanden, selbst diejenigen, die direkt an der Grenze zu Gaza lebten, ist für’s Erste zerstört. Der 7. Oktober stellt eine Zäsur dar. Und in gewisser Weise sorgt er dafür, dass wir vergessen, was vorher war. Dabei stand das Land schon vor dem 7. Oktober an einem Abgrund.
Seitdem die aktuelle Regierung Anfang des Jahres 2023 eingeschworen wurde und ihren Plan zur Justizreform vorlegte, befindet sich Israel im Ausnahmezustand. 2023 war das Jahr, in dem sich in Israel alles verschlimmerte. Das Jahr, in dem all die Gräben, die über Jahre aufgerissen waren, endgültig unüberwindbar zu werden schienen. Linke kämpften gegen Rechte. Säkulare gegen Religiöse. Aschkenasen gegen Mizrachim. Und am Ende Araber gegen Juden. Das fragile Fundament, auf dem der einzige jüdische Staat der Welt steht, schien 2023 vollkommen zu zerbrechen. Es geht, so schreibt der Haaretz-Autor Anshel Pfeffer in seinem Jahresrückblick, dabei um nicht mehr oder weniger als das Wesen der israelischen Demokratie. „Würde es im Wesentlichen zu einem autokratischen, mehrheitsfähigen Regime werden, in dem nur noch alle paar Jahre eine Wahl stattfindet? Würden Israels weitgehend säkulare und liberale Gemeinschaften – die zufällig auch den Grossteil der Steuern zahlen – zur Unterwerfung gezwungen werden? Bedeutete die Demografie, dass eine wachsende religiöse Minderheit in der Lage sein würde, der Mehrheit ihre Version des fundamentalistischen Judentums aufzuzwingen?“ All diesen Fragen beschäftigten Israel schon lange, 2023 aber schienen sie das Volk endgültig zu entzweien. Monatelang gingen zehntausende, zum Teil hunderttausende Menschen auf die Strasse. Die Regierung reagierte mit Hass und Polizeigewalt, das Vertrauen in den Staat sank bei vielen Bürgern auf ein Minimum. Ganze Armeeeinheiten verweigerten den Reservedienst, Investoren zogen sich aus dem Land zurück, Unternehmen, Bildungseinrichtungen und andere Institutionen wandten sich gegen die Regierung – die trieb ihre Justizreform jedoch ohne Unterlass voran.
Israel kann sich einen Bruderkrieg nicht leisten
Dann kam der 7. Oktober und mit ihm die Klarheit: Israel kann sich einen Bruderkrieg nicht leisten, denn Israel ist auch von aussen auf schier unfassbare Weise bedroht. Natürlich hat das Land schon grössere Kriege geführt, als den aktuellen gegen die Hamas in Gaza. Natürlich ist es nicht das erste Mal, dass Israel überraschend angegriffen wird und am Ende wieder zu sich kommt, und hart und effektiv zurückschlägt. Und trotzdem, alles, was 2023 passiert ist, fühlt sich existentiell für das Weiterbestehen von Israel an. 2024 geht es also ums Grosse Ganze. Es geht um die Zukunft Israels. Nicht mehr und nicht weniger. Es geht darum, dass der israelische Regierungschef, der das Volk seit fast 30 Jahren spaltet, entmachtet wird. Und ja, es geht auch darum eine Lösung für die Situation der Palästinenser zu finden.
Natürlich scheint eine Lösung nach dem 7. Oktober utopischer denn je. Auch das Jahr 2024 begann mit Raketenalarmen im ganzen Zentrum Israels. Die Hamas schafft es auch, nachdem grosse Teile Gazas zerstört sind, nachdem wahrscheinlich fast 20.000 Palästinenser getötet wurden, immer noch Raketen auf Israel zu schiessen. Aber es sind nicht nur die Raketen und die Hamas, die Israels Situation auch im neuen Jahr auswegslos erscheinen lassen. Israel hat keinen Plan für die Zukunft. Weder was den Umgang mit rechtextremen Kräften oder den tiefen Meinungsverschiedenheiten im Landesinneren angeht, noch was die Koexistenz mit den palästinensischen Nachbarn betrifft.
Zerstörte Illusionen
Seit Jahrzehnten predigt Israels Regierungschef, dass er dem Land Sicherheit bringt. Seit Jahrzehnten hat Israel geglaubt, man müsse nur aufrüsten, sich so gut es geht vor den feindseligen Terroristen schützen, und dann könne man schon in Ruhe leben. Milliardenteure Mauern und Zäune, High-Tech-Lösungen und eine starke, hochentwickelte Armee sollten genügend Schutz bieten. Doch das haben sie nicht. Die Illusion, dass Israel seinen Feinden überlegen ist, wurde am 7. Oktober zerstört. Eine der stärksten Armeen der Welt hat mehr als 24 Stunden gebraucht, um eine Gruppe von tausenden Terroristen zurückzudrängen. Und noch immer sind mehr als 130 israelische Geiseln in Gaza gefangen. Dinge, die von Militarexperten als unmöglich eingeschätzt wurden, sind passiert. Und das gesamte israelische Volk steht fassungslos daneben.
2024 gilt es, dieses Trauma zu verarbeiten, die verbleibenden Geiseln nach Hause zu bringen, die Hamas soweit es geht zu zerstören und währenddessen endlich einen nachhaltigen Plan für Israels Zukunft in dieser Region zu schmieden. Ganz hoffnungslos ist die Situation trotz allem nicht: Die unfassbare Mobilmachung nach dem 7. Oktober, sowohl auf Seiten des Militärs, als auch in freiwilligen Organisationen, die an allen Stellen im Land helfen, zeigt, wieviel Zivilcourage und Zusammenhalt immer noch in der israelischen Gesellschaft steckt. Auch die Tatsache, dass die etwa 20 Prozent arabisch-palästinensischen Israelis innerhalb des Landes zu Israel zu halten scheinen, macht Mut. Vor allem aber begann 2024 nicht nur mit einem Raketenbeschuss der Hamas, sondern auch mit einer wichtigen Entscheidung des Obersten Gerichtshofs: Die bisherige Justizreform wurde von den Richtern erst einmal gestoppt. Der Kampf um Israel, um die Zukunft dieses Staates, der hat aber gerade erst wieder begonnen.