MAGAZIN – LEBEN IN ISRAEL

Was der Staat nicht schafft, schaffen die Bürger

in Israel Zwischenzeilen/Leben, Kultur & Sport

Vor dem Expo-Gelände im Norden Tel Aviv sitzen ein paar Freiwillige auf Stühlen. Das heißt, sitzen tun sie eigentlich kaum, denn alle paar Minuten kommen Autos angefahren, in ihnen Menschen, die Spenden bringen. Die Freiwilligen Helfer geleiten die Spender in die Tiefgarage und dort bietet sich ein unglaubliches Bild: Über eine riesige Fläche wird hier alles gesammelt, was für die Familien, die ihr Zuhause verloren haben, von Wert sein könnte. Minutenlang fahren wir mit einem der Freiwilligen an den vielen Spenden vorbei. Da stehen ganze Kinderzimmer, Betten, Matratzen, Schränke, aber auch tausende Säcke mit Kleidung für alle Altersgruppen, Kartons, Koffer, Dutzende Kinderräder.
Hier unten in der Tiefgarage unter dem Expo-Gebäude sieht man das Ausmaß der israelischen Hilfsbereitschaft. Sie übernimmt, was die Regierung, gegen die ja nicht umsonst monatelang so heftig protestiert wurde, nicht leistet.

Eingang zum Expo-Gelände: Seit dem 7. Oktober sammelt die Organisation Brothers and Sisters in Arms hier Spenden, um den israelischen Binnenflüchtlingen zu helfen (Bild: KHC).

Bei allem Schlimmen, dass das Land seit dem 7. Oktober durchmachen muss – der Zusammenhalt ist so stark wie nie. Tausende von Freiwilligen aus verschiedenen Altersgruppen und Bereichen kämpfen seitdem gemeinsam um die Existenz, den Wiederaufbau und die Zukunft des jüdischen Staates. Allen voran die Organisation „Brothers and Sisters in Arms“, die auch für die Spendensammlung unter dem Expo-Gelände verantwortlich ist. Sie ist die größte zivile Hilfsorganisation in Israel. Sie wird ausschließlich von mehr als 15.000 Freiwilligen getragen, darunter ehemalige Militärangehörige, High-Tech-Fachleute und Studierende. Nach dem 7. Oktober haben sie quasi aus dem Nichts einen Staat im Staat geschaffen.

Zu den wichtigsten Aufgaben der Organisation gehören: Die ganzheitliche Unterstützung für evakuierte Familien, egal ob es um die Unterkunft, lebensnotwendige Güter, psychologische Betreuung, die Wahrnehmung von Rechten oder die Bereitstellung von Kindergärten und Schulen geht. Darüber hinaus kümmerte sich die NGO um die Soldaten, von Transport und Verpflegung bis hin zur Unterstützung bei der Vervollständigung der Schutzausrüstung. In den ersten zwei Wochen war auch die wichtigste Vermissten-Hotline des Landes im Hauptquartier der Brothers and Sisters in Arms angesiedelt, das die gesamte Informationsbeschaffung und das Auffinden der Vermissten in den ersten Wochen koordinierte. „Das Hauptquartier hat drei Ziele: Das erste ist, der Armee zum Sieg zu verhelfen. Das zweite ist, dass jeder, der verletzt wurde, die aktuelle Situation mit so wenig Schmerzen und Schwierigkeiten wie möglich und mit so viel Respekt wie möglich durchlebt. Und drittens, dass wir Teil des Aufbauprozesses sind. Nach diesen Geschehnissen steht Israel ein großer Wiederaufbauprozess bevor“, erklärt Gigi Levy Weiss von Brothers and Sisters in Arms gegenüber der Zeitung Calcalist.

Brothers and Sisters in Arms Kontrollzentrum für das Auffinden vermisster Personen im Oktober 2023 in Tel Aviv (Bild: By Davidkad, Wikimedia Commons)

Doch bei aller Begeisterung über die Zivilcourage und den Zusammenhalt, den Israel gerade erlebt: Das Engagement kann die immer lauter werdende Kritik an der israelischen Regierung kaum verdecken. Meldungen von unverständlichen Budgetentscheidungen, wie einer extremen Erhöhung der Gelder für das Siedlerministerium, mitten im Krieg, während viele Binnenflüchtlinge immer noch keine feste Bleibe haben, stoßen bei großen Teilen der Bevölkerung auf Unverständnis. Dazu kommt ein Premierminister, der nach wie vor keine Verantwortung für die Ereignisse am 7. Oktober übernehmen will. „Was wohlmeinende Menschen jetzt tun, ist, den gescheiterten Staat zu ersetzen, die öffentlichen Dienste, die nicht angemessen reagieren. Die Bürger tun ihre Arbeit für sie, verbergen so das Ausmaß der Ineffizienz und der moralischen Korruption und ersticken den Aufschrei, der das Land eigentlich erschüttern sollte. Die Regierung nutzt diesen Geist der Freiwilligkeit aus, um weiterhin nichts zu tun.“, schreibt etwa die Journalistin Iris Leal in der Haaretz.

Auch Oppositionsführer Yair Lapid kritisiert die Vorgehensweise der israelischen Regierung scharf: „Wir sind seit zwei Monaten im Krieg und der Staat Israel hat immer noch keine Pläne für den Tag nach dem Krieg, es gibt keine organisierten diplomatischen Bemühungen während des Krieges, es gibt kein einheitliches System der öffentlichen Diplomatie, es gibt keinen organisierten Wirtschaftsplan, um die Schäden in der Wirtschaft zu bewältigen. Es gibt niemanden, der sich mit den Reservisten befasst. Kurzum: Es gibt keine Regierung.“

Anm. d. Red.: Ein Teil der Spendengelder für Soforthilfe der gesamtschweizerischen HELFT ISRAEL Aktion unserer Schwestergesellschaft Schweiz-Israel ging an die Organisation Brothers and Sisters in Arms. 

Video von der Spendenaufnahmestelle in Tel Aviv

Redakteurin Katharina Höftmann Ciobotaru arbeitete im Auslandsbüro der dpa in Tel Aviv und für die WELT ONLINE. Sie lebt als freie Journalistin und Buchautorin in Tel Aviv («Guten Morgen Tel Aviv», «Die letzte Sünde»).

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