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Streit um öffentliches Gebet in Tel Aviv

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Es ist eine Tradition, die eigentlich während der Corona-Zeit 2020 geboren wurde: Als Regeln zum sozialen Abstand galten, begann eine Organisation namens „Rosh Jehudi“ zwei Jom-Kippur-Gebetstreffen auf dem Tel Aviver Dizengoff-Platz abzuhalten, das relativ kleine Kol Nidre-Gebet, mit dem das Fasten eröffnet wird, und das Ne’ilah-Gebet am Ende des Feiertags, an dem in den letzten Jahren etwa 2.000 Gläubige teilgenommen haben. Während die meisten Betenden nach Ende der Corona-Pandemie in ihre Synagogen zurückkehrten, hielt sich die Gruppe derer, die Jahr für Jahr in weisse Kleidung gehüllt am Dizengoff Platz Jom Kippur begingen. Dabei standen Männer und Frauen immer nebeneinander, aber doch meist in getrennten Gruppen. Es ist in den meisten Synagogen im Land üblich, das Männer und Frauen entweder mit einem Sichtschutz getrennt werden, oder auf unterschiedlichen Etagen sitzen. Das wird soweit auch allgemein akzeptiert. Im öffentlichen Raum hingegen sieht das anders aus, zumal in einer liberalen Stadt wie Tel Aviv.

Als „Rosh Jehudi“ in diesem Jahr ankündigte, bei den Gebeten auf dem Dizengoff Platz einen Sichtschutz aufstellen zu wollen, um Männer und Frauen beim Gebet zu trennen, regte sich Kritik und Widerstand. Es gäbe in der Stadt mehr als 500 Synagogen, in den meisten von ihnen beten Männer und Frauen getrennt, im öffentlichen Raum hingegen sei dies nicht erlaubt, so lautete eines der Hauptargumente gegen die geplante Trennung. Am Freitag vor Jom Kippur wies der Oberste Gerichtshof schliesslich einen Antrag auf Zulassung geschlechtergetrennter Gebete auf dem Platz ab. Die Richter schlossen sich damit der Entscheidung einer unteren Instanz zugunsten der Stadtverwaltung von Tel Aviv an, die „Rosch Jehudi“ untersagt hatte, die Veranstaltung mit einer Geschlechtertrennung abzuhalten. Hier könnte die Geschichte zu Ende sein, aber der Konflikt um den Gebetsgottesdienst findet inmitten einer wachsenden nationalen Debatte über die Rolle der Religion in Israel statt. Eine Debatte, die sich im Zuge der Proteste gegen die Justizreform der Regierung verschärft hat, und die durch immer gehäuftere tatsächliche Trennung von Männern und Frauen im öffentlichen Raum (wie im Nahverkehr) befeuert wird.

„Die Organisation hat provisorische Trennwände auf dem Dizengoff-Platz aufgestellt und die anwesende Polizei hat diese – trotz der Entscheidung des Obersten Gerichts – nicht entfernt. Wir sehen diesen Vorfall als Präzedenzfall dafür, was passieren wird, wenn das Oberste Gericht gegen die Regierung entscheidet.“, erklärt Dana Yoeli, Künstlerin und politische Aktivistin, die sich mit vielen anderen besorgten Bürgern auf dem Dizengoff-Platz eingefunden hat, um gegen die Geschlechtertrennung zu protestieren. „Mitglieder der Organisation Rosh Jehudi mieten Wohnungen im Zentrum der Stadt, bekommen Steuervergünstigungen und Staatsgelder. Sie errichten überall in der Stadt Synagogen und sogenannte Lernzentren, um ihre Präsenz zu verstärken. Die orthodoxe Organisation und ähnliche ihrer Art, die ein intolerantes, rassistisches, frauen- und homosexuellen feindliches Weltbild vertreten, versuchen so in Tel Aviv die Kommunalpolitik zu beeinflussen.“

Ein öffentliches Gebet an Jom Kippur auf dem Atirim-Platz in Tel Aviv – zumindest hier gab es keine Trennwände (Bild: KHC).

Redakteurin Katharina Höftmann Ciobotaru arbeitete im Auslandsbüro der dpa in Tel Aviv und für die WELT ONLINE. Sie lebt als freie Journalistin und Buchautorin in Tel Aviv («Guten Morgen Tel Aviv», «Die letzte Sünde»).

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