Ganz nah neben uns ruft der Muezzin. Allah hu akbar. Wir sitzen auf der Dachterrasse des alten Jaffa Hostels und trinken Aperol Spritz. Freundin Z. ist gerade erst aus Berlin angekommen, sie wird in Tel Aviv und Jerusalem ein Jahr ihres Geschichtsstudiums absolvieren. „Warum wählen die Leute Netanyahu?“, fragt sie in die laue Abendluft hinein und erst da fällt mir ein, dass wir ja in zwei Wochen schon wieder wählen gehen. Es ist die fünfte Wahl in drei Jahren. Lassen Sie mich das wiederholen: Fünf Mal Wahlurne in drei Jahren. Ein Taxifahrer sagte mir neulich völlig desillusioniert: „Ich wähle dieses Mal nicht mehr. Was soll denn dabei rauskommen?“ Verstehe ich total, wenn ich es auch mit meinem demokratischen Gewissen niemals vereinbaren könnte, gar nicht erst zu gehen. Natürlich werde ich gehen. Natürlich werde ich wählen. Dieselbe Partei, die ich seit fünf Wahlgängen wähle, in der Hoffnung, dass sie in der Regierung bleibt. Aber man muss schon auch mal ganz deutlich sagen: Man oh man, sitzen wir hier in der Klemme.
Selbst die Parteien haben kein Bock mehr
Auch diese Wahl jetzt am 1. November wird nämlich wahrscheinlich kein eindeutiges Ergebnis bringen. Unter Umständen geraten wir in denselben „Keine Partei/Bündnis/Koalition bekommt genug Stimmen, um komfortabel zu regieren“-Teufelskreis. Und irgendwie merkt man selbst den Parteien an, dass sie keinen Bock mehr haben. Bis auf gelegentliche SMS von NETANYAHU (alles Grossbuchstaben), Yesh Atid oder Meretz mit Informationen, was sie alles für das israelische Volk tun, tun werden oder getan haben, ist alles relativ ruhig. Man sieht kaum Wahlwerbung auf den Strassen, keine grossen Plakate, keine Poster an Laternenpfählen. Allerdings: Wie die Haaretz berichtet, gaben die Parteien Schätzungen zufolge in den letzten drei Monaten wirklich nur rund 30 Prozent ihres Wahlkampfbudgets ausgegeben, denn die verbleibenden 70 Prozent haben sie für die nächsten zwei Wochen reserviert. Es ist ja irgendwie auch schon bezeichnend, dass in Israel der Wahltag selbst angeblich der wichtigste und entscheidende Tag für Werbung ist. Israelis entscheiden scheinbar spontan, wem sie ihre Stimme geben, was so völlig gegen mein deutsches Wahlempfinden geht, bei dem man sich vorher die Parteiprogramme durchliest und dann überlegt, welche Partei einen und die eigene Lebenssituation am Besten repräsentiert.
Immer noch auf dem Dach in Jaffa fragt mich Z. nach welchen Kriterien Israelis denn wählen und an dieser Stelle bin ich nun komplett ratlos. Denn die Wahrheit ist, ich kapiere oft gar nicht, wonach Israelis ihren Wahlzettel ausfüllen. Familien mit wenig Einkommen wählen hier eine kapitalistische Haifisch-Partei, die die Oligarchenartigen Strukturen in Israel aufgebaut hat, Beduinen im Süden wählen gerne mal einen russischen Hardliner und junge Tel Avivis jubeln einem gebürtigen Amerikaner zu, den man schlichtweg als harten Rassisten bezeichnen muss. Und am Ende entscheiden sich die meisten Israelis immer für die Partei, die vermeintlich am meisten militärische Sicherheit bringt. Angeblich definieren sich 70 Prozent der 18- bis 24-Jährigen Israelis als „rechts“. Und das richtet sich, nach den Unruhen in arabisch-jüdisch gemischten Städten 2021, nicht mehr nur an die palästinensischen, libanesischen oder syrischen Nachbarn, sondern vor allem an die arabische Minderheit im Land.
Viele arabische Israelis haben das Vertrauen verloren
Die arabische Minderheit ist übrigens auch die Gruppe in Israel, die die mit Abstand niedrigste Wahlbeteiligung hat. Auf lediglich 43,5 Prozent wird diese in der kommenden Wahl geschätzt. Viele arabische Israelis haben das Vertrauen in die arabischen Parteien verloren, die, so glauben sie, selbst dann, als sie in der Regierung waren, nichts für sie ausrichten konnten. Und wahrscheinlich wird das eines der grössten Probleme bei dieser Wahl. Die Menschen glauben an nichts mehr. Sie sind desillusioniert. Sie glauben, dass sie sowieso nichts ausrichten können und ihre Stimme nichts zählt. Das ist das eigentliche Drama an Israels fünfter Wahl.