MAGAZIN – LEBEN IN ISRAEL

Kommentar: Halle ist überall

in Deutschland in Israel/Israel Zwischenzeilen/Leben, Kultur & Sport

Hin und Wieder denke ich darüber nach, wie es wäre, in Deutschland zu leben. Während unseres Sommerbesuchs wohnte ich zufällig genau gegenüber von meiner besten Freundin, die mit Mann und Kind in Berlin lebt. Wir waren abends verabredet, ich schrieb ihr eine Nachricht „Gehe jetzt los“, zwei Minuten später klingelte ich an ihrer Tür und sie empfing mich mit den Worten: „Oh, das ging so schnell. Stell dir vor wie es wäre, wenn du immer hier wohnen würdest.“

Ich liebe Deutschland, nein das stimmt so nicht, ich mag Deutschland, aber ich liebe den Ort, an dem ein Grossteil meiner Familie und viele meiner Freunde leben. Ich liebe den Ort, an dem ich meine Muttersprache spreche und der es mir ermöglicht, Bücher zu schreiben und davon leben zu können. Ich liebe den Ort, an dem ich kulturelle Symbole nicht nur verstehe, sondern mich selbst in ihnen wiedererkenne. Ich liebe den Ort, an dem ich immer dazugehöre, an dem ich Teil der Mehrheit bin und der trotz allem, trotz dem ich mich in Israel zu Hause fühle, meine Heimat ist. Ich liebe Berlin mit seiner roughen Wildheit und all den Erinnerungen, die diese Stadt für mich birgt. Und ich liebe die Ostsee, dieses Meer, das kein richtiges ist, das immer zu kalt und meist zu algig ist, und in das ich für immer mein Herz verankert habe. Und dann denke ich eben ab und zu: Wie wäre es, wenn wir in Deutschland lebten? In meiner Heimat?

Ich kenne die ganze Bandbreite des deutschen Antisemitismus

Ich denke das und weiss doch, zwischen Deutschland und mir ist etwas zerbrochen. Schon damals, als mein Mann und ich in Berlin lebten, von 2007 bis 2010, und ständig mit Antisemitismus konfrontiert wurden. Von Linken, von Rechten, von Akademikern, von Bauarbeitern, von Christen, von Muslimen und von solchen, die lange schon nicht mehr an einen Gott glauben. Schon damals habe ich, als er an Jom Kippur einfach nicht wiederkam vom Gebet aus der Synagoge, gedacht, dass er bestimmt zusammengeschlagen wurde, weil er mit einer Kippa auf dem Kopf durch Berliner Strassen lief. Seitdem ich meinen Mann kenne, seitdem ich vom Baum der Erkenntnis gegessen habe und mein Land mit anderen Augen sehe, hatte ich nie die Illusion, dass ein normales jüdisches Leben in Deutschland jemals wieder möglich sein wird.

Ich bin im Osten aufgewachsen. Als 1992 das Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen brannte, wohnte ich nur einen Stadtteil entfernt. Ich bin in Städten aufgewachsen, in denen Glatzen, wie man die Neo-Nazis bei uns nennt, zum Stadtbild gehören. Meine Mutter hat sie in ihrer Hauptschulklasse unterrichtet und wir Gymnasiasten wurden nachmittags von ihnen gejagt. Aber ich habe auch oft genug im Fussballstadion oder auf dem Hafenfest Schulter an Schulter mit ihnen gestanden. Ich bin da aufgewachsen, wo es zwar eine „Judenstrasse“ aber keine Juden mehr gibt. Wo „Jude“ sich anhört wie eine Beleidigung und wo es normal ist, Asiaten als „Fidschis“ und Schwarze als „Bimbos“ zu bezeichnen. Ich kenne die Rechten, auch die gebildeten, die Anwälte und Ärzte, seit meiner Kindheit. Ich kenne die Linken und ihren ausgeprägten Antizionismus seit ich mit 19 nach Berlin gegangen bin. Ich kenne die ganze Bandbreite des deutschen Antisemitismus und dank meiner palästinensischen Mitbewohner während des Studiums auch den muslimischen Judenhass.

Und doch, hin und wieder kann ich den Gedanken einfach nicht abschütteln: Wie wäre es wohl, in meiner Heimat zu leben? Meinen Kindern meine Sprache, meine Kultur, Goethe, Schiller und Schubert ganz nah zu bringen? Mit ihnen durch deutsche Buchläden und deutsche Wälder zu wandern, ihnen etwas zu geben, was sie in Israel nie erleben werden. Ich komm nicht umhin, meine Heimat immer wieder zu vermissen. Immer wieder das Bedürfnis zu verspüren, dorthin zu reisen, mit der Dringlichkeit eines Menschen, der zu lange unter Wasser war. So sehr ich Tel Aviv liebe, wenn ich in Berlin aus dem Flieger steige, atme ich tief ein und fühle mich auch dort zu Hause. Trotz allem.

An Jom Kippur, oder besser, als Jom Kippur zu Ende war, kamen wir aus der Synagoge, stellten unsere Telefone wieder an und ich las vom Terroranschlag in Halle. Las, dass ein Neo-Nazi versucht hatte, dort eine Synagoge zu stürmen und als ihm das nicht gelang, zwei Passanten per Zufallsprinzip erschoss. Mein Mann, der nur die Hochsicherheitstrakte der Berliner Synagogen kennt, fragte mich ungläubig, ob denn in Halle die Polizei nicht die Synagoge beschütze und als ich ihm sagte, dass in vielen deutschen Städten, vor allem im Osten, keine Polizei vor den Synagogen stehe, schüttelte er mit dem Kopf. Und in seinem Blick las ich seine Gedanken: „Ich werde niemals wieder nach Deutschland ziehen.“

Und er hat ja Recht, entweder muss man an schwer bewaffneten Polizisten vorbei, um an Jom Kippur, dem Tag, an dem wir immer in die Synagoge gehen, zu beten oder man ist Terroranschlägen völlig ausgeliefert. Und selbst wenn Jom Kippur nur einmal im Jahr ist – das Zugeständnis ist für ihn zu gross. Und dabei weiss er noch nicht einmal, was ich weiss: dass es eine Illusion ist, zu denken, das Gedankengut des Täters wäre eine Ausnahme. Dass es eine Illusion ist, zu denken, wir Juden könnten in Deutschland ein normales Leben führen. Und dass wir – und das mag für viele Deutsche völlig paradox klingen – in Israel sicherer sind. Weil, bei aller Kritik, die man für die israelische Politik haben kann und muss, hier niemand die Augen davor verschliesst, wer die Feinde sind. Wozu sie fähig sind und wie man sie bekämpft. Weil hier alle wissen, was in Deutschland nur wenige Menschen bisher verstanden haben: Dass Halle überall ist.

Die grosse Synagoge in Berlin – wunderschön, aber schwer bewacht (Bild: Pixabay).

Redakteurin Katharina Höftmann Ciobotaru arbeitete im Auslandsbüro der dpa in Tel Aviv und für die WELT ONLINE. Sie lebt als freie Journalistin und Buchautorin in Tel Aviv («Guten Morgen Tel Aviv», «Die letzte Sünde»).

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