MAGAZIN – LEBEN IN ISRAEL

Kolumne: Wutbürger und German Angst

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Neulich habe ich geträumt, dass ich mit einem dieser Elektroroller durch Tel Aviv fahre. Es war ein Albtraum, denn ich hasse diese Dinger. Ich hasse auch E-Bikes. Ich würde sogar soweit gehen, zu sagen, dass E-Bikes und E-Roller die Pest unser Zeit sind. Übertrieben finden Sie? Jaja, vielleicht funktionieren solche elektrisch betriebenen super rasanten Zweiräder in Ländern wie Deutschland und der Schweiz, wo 90 Prozent der Bevölkerung in der Lage sind, Regeln und Gesetze einzuhalten – in Israel nicht!

E-Räder und -Roller, wohin das Auge reicht: Tel Aviv am Morgen (Bild: KHC).

Mein Mann hasst die Dinger noch viel mehr, als sich einer seiner besten Freunde vor kurzem ein E-Bike kaufte, kündigte er ihm direkt die bereits über 20 Jahre andauernde Freundschaft: „Dude, wie konntest du? Du bist jetzt einer von denen!“ Dass mein Mann und ich diese elektronisch betriebenen Vehikel für die Zweirad-Version des Megatrons halten, liegt natürlich auch daran, dass wir vorsichtige Menschen sind. Ich halte meine Kinder meist an der Hand, auch wenn die Strasse weit weg ist. Auf dem Spielplatz sind wir oft die einzigen Eltern, die ihre Kinder nicht aus den Augen lassen und wenn es nötig ist, auch mal mit klettern. Dabei komme ich mir oft schon wie der Inbegriff von German Angst vor, denn Israelis sind da viel lockerer. Zu locker? Regelmässig wird einer von uns, wenn wir mal wieder versuchen, mit zwei Kindern auf unserem Trottoir an der Dizengoff Strasse entlangzulaufen, fast von einem E-Roller oder -Bike umgenietet. Unsere Reaktion darauf? Wir rasten gepflegt aus!

Natürlich sind wir damit wiederum typische Israelis, denn wer hält hier schon mit Kritik hinterm Berg oder beschränkt sich auf passive Aggressivität, wie ich sie aus meinem Heimatland Deutschland kenne. Nein, nein, das deutsche „pfffff“ und „oooohhhh“, also das passiv aggressive Ausatmen in den Nacken des Vordermanns, würde ja in Israel gar nicht funktionieren. Niemand würde auch nur merken, dass man wütend ist. Wenn man hier was erreichen will, muss man schon schreien. Mindestens! Noch besser, man schreit und fuchtelt mit den Armen. Und wenn man schon mal mit den Armen fuchtelt, ist es auch zur Handgreiflichkeit nicht weit.

Wenn ein Zweijähriger nicht „rebellisch“ genug ist

Deswegen wundert mich der neuste OECD-Bericht darüber, dass die Gewalt in Schulen in Israel sechsmal schlimmer sei als in anderen westlichen Ländern, eigentlich gar nicht: Manchmal habe ich das Gefühl, Kindern wird hier von Klein auf an beigebracht, im Kampfmodus zu sein. In meinem ersten richtigen Kita-Elterngespräch kritisierte die Kindergärtnerin an meinem damals Zweijährigen, dass er „nicht rebellisch“ genug sei, nicht genug „für seine Rechte kämpfe“. Ich weiss genau, was sie damit meinte: Er schreit andere Kinder nicht an. Haut nicht. Schubst nicht. Beisst nicht. Was ich als Erziehungserfolg betrachtete, sah die Kindergärtnerin als Charakterschwäche. Ja, von Klein auf bringt man den Kindern in Israel bei, sich bloss nichts gefallen zu lassen. Und dass Wut gut ist und nicht unterdrückt werden muss (so habe ich es ja in meiner Heimat gelernt).

Absurderweise ist mein kleiner Sohn das Gegenteil vom Grossen, er wütet, haut, schubst und setzt sich immer durch. Und die Ironie daran: laut den Grossmüttern kommt der Grosse nach meinem Mann und der Kleine nach mir. Ich gebe zu, ich lasse mir ungern die Butter vom Brot nehmen, das war auch schon vor Israel so. Ich gebe zu, Wutausbrüche kenne ich nicht erst, seitdem ich im Gelobten Land lebe. Trotzdem fragen mich meine deutschen Eltern bei jedem Besuch in Tel Aviv, warum ich so aggressiv sei. „Ich bin nicht aggressiv“, schreie ich dann zurück, „ich bin israelisch. Nur so überlebt man hier!“

Und bevor ich jetzt wieder Leserzuschriften von Schweizern bekomme, die seit 100 Jahren im gemütlichen Zürich leben und Israel nur aus folkloristischen Kurzurlauben kennen, und die mir vorwerfen, dass ich das Holy Land zu negativ darstelle: Einen Teil der Wut, ein Teil des israelischen Verhaltens begrüsse ich ja. Ich finde es super, dass meine cholerische Art hier der Norm entspricht und ich endlich ich selbst sein kann. Ich finde es beeindruckend, dass Israelis quasi nie irgendwas als gegeben hinnehmen, weder Gesetze noch Abläufe, weil: „das haben wir immer so gemacht“. Dass sie alles hinterfragen und jederzeit bereit sind, über Bord zu schmeissen, führt nämlich auch zu dieser unfassbaren Innovationsfähigkeit und Energie, die in diesem Land mit der gleichen Kraft scheint, wie die Mittagssonne im August. Es führt dazu, dass Menschen ihr Herz auf der Zunge tragen, ehrlich sind und nicht mit einem Knoten an unterdrückten Gefühlen im Bauch sterben. Aber: Gepaart mit der israelischen Rücksichtslosigkeit, mit dem israelischen Ego, mit dem israelischen „ich habe 2000 Jahre in der Diaspora ums Überleben gekämpft und die ganze Welt hasst mich sowieso“ ufert das alles aus.
Und dann rasen eben Elektroroller über Bürgersteige oder werden achtlos mitten auf dem Weg abgestellt. Und dann schreien sich eben Menschen blind vor Wut an, wo ein Gespräch auf Augenhöhe ganz sicher bessere Ergebnisse erzielen und den Blutdruck schonen würde. Und dann fragen deutsche, zum Judentum übergetretene Einwanderer wie ich sich eben: Mensch Leute, nach 2000 Jahren Herumgeirre haben wir endlich wieder ein gemeinsames Land, Freiheit, Jerusalem und so viel Falafel wie wir wollen – können wir jetzt hier nicht etwas netter zueinander sein?

Heute morgen stand übrigens ein Auto vor der Kita, dass wohl jemand besoffen oder aus reiner Unmenschlichkeit heraus quer über den Bürgersteig geparkt hatte – und alle Eltern tobten! Einer schrie „das ist sie, die hässliche Fratze der Israelis. Wir sind Teil des Problems nicht der Lösung“ und ich schwöre, dass mindestens zehn Väter und Mütter die Polizei benachrichtigten oder sich beim Ordnungsamt beschwerten. Die Wut mag sehr israelisch gewesen sein, aber beim Ordnungsamt anzurufen, um sich zu beschweren, scheint mir doch sehr deutsch. Und das wiederum kommt mir wie ein perfekter Mix vor. Oder, um aus der grossartigen israelischen Hymne, der Hatikwa, zu zitieren: od lo avda tikvatenu!
Noch ist unsere Hoffnung nicht verloren.

Es stimmt: Parkplätze sind in Tel Aviv Mangelware, aber das muss doch dann auch nicht sein (Bild: KHC).

Weitere Informationen:

Mehr Sicherheit vor E-Rollern (eng), Ynet

Gewalt in Israels Schulen über OECD-Durchschnitt (eng), Times of Israel

Redakteurin Katharina Höftmann Ciobotaru arbeitete im Auslandsbüro der dpa in Tel Aviv und für die WELT ONLINE. Sie lebt als freie Journalistin und Buchautorin in Tel Aviv («Guten Morgen Tel Aviv», «Die letzte Sünde»).

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