Es ist ein Samstagabend in Tel Aviv, auf dem Habima-Platz. An dem Gebäude der israelischen Philharmonie prangt „Bringt Them Home“ in riesigen Leuchtbuchstaben, hinter dem renommierten Habima-Theater geht dramatisch die Sonne unter. An der Seite des Platzes haben sich um die Psychologin Lihie Gilhar ein paar Dutzend Leute versammelt. Gilhar, die seit dem verheerenden 7. Oktober nicht mehr nur Psychotherapeutin ist, sondern auch die Instagram-Seite „Bring Them Light“ betreibt, auf der sie Videos postet, die den Opfern des schrecklichsten Massakers in Israels Geschichte gedenken, steht auf einem kleinen Podest im Wind. Am 7. Oktober hatte die 52-Jährige Gilhar, die aus Südafrika nach Israel kam, wie fast alle Israelis geschockt dabei zusehen müssen, wie die Hamas den Süden Israels überfiel und etwa 1200 Israelis brutal ermordete. Die Bilder, wie Terroristen die jungen Frauen Naama Levy und Shani Louk durch die Strassen Gazas verletzt und ermordet vorführten, gingen auch ihr wochenlang nicht aus dem Kopf. „Dann verging die Zeit und die ganze Aufmerksamkeit widmete sich den Geiseln und das ist ja auch völlig gerechtfertigt. Die einzigen Stories von den Ermordeten, die lange Zeit erzählt wurden, waren die Helden-Geschichten und auch das ist okay. Aber ich fragte mich, was mit all den Menschen ist, von denen wir noch gar nichts wissen.“
Gilhar entwickelte die Idee, eine grosse Lichtinstallation mit 1200 Lampen, für jedes Opfer des 7. Oktober eins, in Tel Aviv auf dem Habima-Platz zu verwirklichen. Die Stadtverwaltung gab ihr grünes Licht und Gilhar begann, Geld für die Errichtung eines solchen Denkmals zu sammeln. Heute ist nun der Moment zur Eröffnung gekommen. Die Anwesenden bestehen aus einigen Angehörigen, ein paar Bekannten und Freunden und einem Kameramann. Die PR-Frau hatte im letzten Moment ihre Mitarbeit abgesagt. Nicht mal einen Lautsprecher und ein Mikrofon hatte die Stadt zur Verfügung gestellt. Später zeigt sich Gilhar enttäuscht darüber, dass das Projekt, das für etwa einen Monat auf dem Habima-Platz zu sehen sein wird, nicht mehr Aufmerksamkeit bekommen hat. Keine einzige israelische Zeitung hatte darüber berichtet. Und schon bei der Umsetzung kam es zu vielen bürokratischen Hürden, die die Therapeutin, die all diese Arbeit ehrenamtlich macht, überwinden musste. Ihr Fall steht stellvertretend für viele Projekte, die in Israel gegen staatliche Windmühlen und mit einer erschöpften Gesellschaft kämpfen müssen.

Israel ist seit einem Jahr im Krieg und das Land tut sich mittlerweile an allen Fronten schwer. Wie kann man Opfern gedenken, wenn immer noch mehr als 100 Menschen in Gaza gefangen sind? Wie kann man Überlebende unterstützen, wenn alle Ressourcen im Land für den Krieg benötigt werden? Wie kann man die traumatisierte israelische Gesellschaft auffangen, wenn immer noch Hunderttausende Israelis Flüchtlinge im eigenen Land sind? Und all das mit einer Regierung, die seit ihrem Antritt nur einen Bruchteil des Landes zu vertreten scheint.
Eine Nova-Überlebende begann Selbstmord
Israelis sind seit der Gründung des Staates auf Resilienz getrimmt. Alle zehn Jahre erlebte das Land mindestens einen grossen Krieg, dazu die beiden Intifadas und schliesslich den 7. Oktober und den darauffolgenden Krieg – der längste, den das Land je auszustehen hatte und wahrscheinlich noch einige Zeit auszustehen hat. Die berühmte israelische Resilienz stösst mittlerweile völlig zurecht an ihre Grenzen. Nur selten gelangen die vielen individuellen Dramen an die Öffentlichkeit, meist nur dann, wenn eine Situation besonders schlimm eskaliert. So wie der Fall der 22-Jährigen Shirel Golan, die das Hamas-Massaker beim Nova-Musikfestival in der Nähe des Kibbuz Re’im überlebte, und Anfang der Woche nach einem einjährigen Kampf mit einer posttraumatischen Belastungsstörung Selbstmord begann. An ihrem Geburtstag!

Statt zu feiern, wurde Shirel Golan leblos in ihrem Haus in der Gemeinde Porat in der Nähe von Netanja aufgefunden. Auf ihrem Telefon blinkten noch die vielen unbeantworteten Glückwünschen von Freunden. Nach ihrem Tod beschuldigte ihr Bruder Eyal den Staat, ihr nach dem Massaker vom 7. Oktober nicht die nötige Hilfe bei emotionalen und psychischen Problemen angeboten zu haben. „Wenn der Staat sich um sie gekümmert hätte, wäre das alles nicht passiert“, wurde er in hebräischen Medien zitiert. „Der Staat Israel hat meine Schwester zweimal getötet. Einmal im Oktober, geistig, und ein zweites Mal heute, an ihrem 22. Geburtstag, körperlich.“ Golan und ihr Partner Adi gehörten zu den Tausenden von Partygästen, denen es gelang, vom Nova-Outdoor-Rave zu fliehen, als von der Hamas geführte Terroristen begannen, die Teilnehmer zu massakrieren. Die beiden versteckten sich stundenlang unter einem Busch, bis sie schliesslich von dem Polizeibeamten Remo Salman El-Hozayel gefunden wurden, der ein Fahrzeug zur Rettung von unter Beschuss stehenden Partygästen beschlagnahmt hatte und laut Medienberichten schliesslich etwa 200 Menschen rettete.
Golans Bruder erzählte, dass sich seine Schwester mehr und mehr zurückgezogen hatte. Als er sie bat, sich Hilfe zu suchen, antwortete sie, dass es keine staatliche Hilfe gäbe und dass die wenige Hilfe, die sie bekommen habe, von der Basisorganisation Tribe of Nova Community Association gekommen sei, die von Überlebenden und Angehörigen von Opfern nach dem Anschlag gegründet wurde.
Der Staat müsse „aufwachen“
„Meine Mutter war gezwungen, vorzeitig in den Ruhestand zu gehen, um bei ihrer Tochter zu sein. Wir haben uns keinen Millimeter von ihr entfernt, und das einzige Mal, dass wir sie allein gelassen haben, war heute, und sie hat beschlossen, sich das Leben zu nehmen“, sagte Eyal gegenüber Channel 12 News. Er warf dem Staat vor, dass er ‚aufwachen‘ müsse, sonst könnte es zu weiteren Selbstmordversuchen kommen. „Ich habe meine Schwester verloren, aber ich möchte lautstark protestieren, damit andere ihre Angehörigen nicht verlieren!“
Das Ministerium für Wohlfahrt und Soziales antwortete auf eine Anfrage der Times of Israel, dass es „ein Hilfspaket und Unterstützung für Überlebende der Party in einer Vielzahl von Formen bereitstellt“, zusammen mit den nationalen Versicherungsagenturen und anderen Partnern, darunter der Nova-Vereinigung.
Es forderte alle Überlebenden, die emotionale oder mentale Unterstützung benötigen, auf, sich über eine 24-Stunden-Hotline (erreichbar unter der Nummer 118) oder online an das Ministerium zu wenden.
Ob das reicht, darf bezweifelt werden. Das Land ist gerade schlichtweg mit den vielen Herausforderungen überfordert. Wirkliche Hilfe in einem grossen Ausmass wird vielleicht erst dann möglich sein, wenn dieser Krieg endlich zu Ende ist.