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Studie: Eine halbe Million Israelis sind von Trauma bedroht

in Israel Zwischenzeilen/Medizin & Wissenschaft

Einer neuen Studie zufolge besteht für mehr als eine halbe Million Israelis das Risiko, nach den von der Hamas angeführten Anschlägen vom 7. Oktober und dem anschliessenden Krieg gegen die Terrorgruppe im Gazastreifen eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) zu entwickeln.

Die Studie, die von Forschern der Hebräischen Universität Jerusalem, der Columbia University, des Shalvata Mental Health Centers in Hod Hasharon und der Organisation Effective Altruism durchgeführt wurde, kommt zu dem Schluss, dass etwa 520.000 Israelis – oder 5,3 Prozent der Bevölkerung – infolge der aktuellen Krise eine PTBS entwickeln könnten.
Dabei konzentriert sich die Studie nur auf den Süden und das Zentrum des Landes und berücksichtigt nicht den Raketenbeschuss der Hisbollah und die Drohnenangriffe auf den Norden, die kurz nach dem 7. Oktober begannen und noch andauern. Die Zahlen könnten also noch weitaus höher liegen, als angenommen.

„Es ist nicht so, dass die gesamte Bevölkerung in gleichem Masse traumatisiert wurde – deshalb haben wir ein differenziertes statistisches Modell entwickelt, das von der Höhe und dem Ausmass der Traumaexposition abhängt. Wir haben die Bevölkerung in sechs verschiedene Gruppen eingeteilt, und das Modell schätzt die mögliche Prävalenz der PTBS für jede Gruppe“, erklärt die Hauptautorin Dana Katsoty, Doktorandin der Psychologie an der Hebräischen Universität.

Die erste Gruppe besteht aus Personen, die den Terroranschlägen vom 7. Oktober unmittelbar ausgesetzt waren, insbesondere aus denjenigen, die auf dem Musikfestival in der Nähe des Kibbutz Re’im und in den Gemeinden an der Grenze des Gazastreifens waren. Das Modell sagt voraus, dass 31 Prozent dieser Gruppe eine PTBS entwickeln werden.

Die zweite Gruppe bezieht sich auf diejenigen, die sich in unmittelbarer Nähe der Terroranschläge aufhielten. Dazu gehören Menschen, die sich in Gemeinden und Gebieten innerhalb von Städten aufhielten, die nicht von Hamas-Tätern infiltriert worden waren. Die Bewohner fühlten sich jedoch durch die Invasion der nahe gelegenen Gebiete und die hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Täter in ihre Häuser eindringen würden, stark bedroht. Diese Zivilisten versteckten sich stunden- und manchmal tagelang in Luftschutzkellern und sicheren Räumen.

„Dies ist eine der beiden Gruppen, für die wir keine ausreichende Literatur finden konnten, auf die wir uns bei unserem Modell stützen konnten. Daher haben wir für diese Gruppe dieselbe 10-Prozentige Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung einer PTBS vorhergesagt wie für Menschen, die unter schwerem Raketenbeschuss standen. Wir haben uns dafür entschieden, weil diejenigen, die sich in der Nähe der Terroranschläge aufhielten, auch unter schwerem Raketenbeschuss standen“, erläutert Katsoty die Methodik der Studie.

Acht Prozent aller Soldaten werden nach Schätzungen eine PTBS entwickeln

Die dritte Gruppe besteht aus regulären und Reserve-Infanteriesoldaten und Soldaten der Kampfeinheiten. Acht Prozent dieser Gruppe werden voraussichtlich eine PTBS entwickeln.
Die vierte Gruppe besteht aus Zivilisten, die intensivem Raketenbeschuss ausgesetzt sind.
Bei der fünften Gruppe handelt es sich um Zivilisten, die 40-80 km von der Grenze zum Gazastreifen entfernt leben und einem mässigen Raketenbeschuss ausgesetzt sind. Diese Bewohner haben zwischen einer und eineinhalb Minuten Zeit, um einen Schutzraum zu erreichen.

Die sechste Gruppe besteht aus Menschen, die in Gemeinden leben, die mehr als 80 km von Gaza entfernt sind. Obwohl in einigen dieser Orte Raketensirenen ertönten, hatten die ankommenden Raketen weniger Auswirkungen auf das tägliche Leben.

Katsoty sagte, das Modell solle den politischen Entscheidungsträgern und den Verantwortlichen des Gesundheitswesens helfen, sich auf die Behandlung der grossen Zahl von Israelis vorbereiten können, die voraussichtlich ein Posttrauma entwickeln werden.

„Es gibt nicht genügend Psychologen“

„Schon vor dem Krieg verfügte das Land nicht über genügend Psychologen und Fachärzte für psychische Gesundheit, darunter auch solche, die für die Behandlung von Traumata und PTBS ausgebildet sind. Diese hohen Zahlen zeigen, dass das öffentliche Gesundheitssystem über neue Paradigmen für die Behandlung von PTBS nachdenken muss“, sagt Katsoty.

„Nicht jeder wird in der Lage sein, eine Einzelbehandlung in Anspruch zu nehmen. Wir müssen auch gross angelegte Massnahmen in Erwägung ziehen, die Gruppentherapien, Gemeinschaftsprogramme und andere breit angelegte, systemgestützte Interventionen umfassen, mit denen mehr Menschen in Not erreicht werden können. Dies gilt nicht nur für PTBS, sondern auch für andere psychische Erkrankungen wie Angstzustände und Depressionen, die auf Traumata und Krieg zurückzuführen sind.“

Israelische Kinder rennen während eines Raketenalarms zum Schutzraum (Bild: https://www.flickr.com/people/45644610@N03).

Redakteurin Katharina Höftmann Ciobotaru arbeitete im Auslandsbüro der dpa in Tel Aviv und für die WELT ONLINE. Sie lebt als freie Journalistin und Buchautorin in Tel Aviv («Guten Morgen Tel Aviv», «Die letzte Sünde»).

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