Ich schreibe seit fast 12 Jahren die Israel Zwischenzeilen und seit 12 Jahren beschäftigen wir uns mit Absicht nicht mit dem Israel-Palästina-Konflikt. Dieser Philosophie haben wir uns verschrieben, weil wir glauben, dass in den Massenmedien schon genug über den Konflikt berichtet wird. Wir hingegen wollen die Seiten Israels zeigen, über die in der Schweiz, Deutschland oder Österreich viel zu wenig erzählt wird. Die kleinen Geschichten, die berührenden und inspirierenden Geschichten aus diesem Land, das nicht vielfältiger und spannender sein könnte. Die Wahrheit ist aber auch, wenn man hier im jüdischen Staat lebt, kommt man an dem Konflikt nicht vorbei. Man kann ihn zeitweise ignorieren, gerade in Tel Aviv, wo man weit von Checkpoints, Dauerraketenbeschuss und Sperrwällen lebt, aber vergessen, vergessen wird man ihn nie.
Letzte Woche Mittwoch Abend gehe ich mit meiner Freundin Eden auf der Dizengoff essen, ein Cocktail und ein Beef Tartar, danach schlendern wir nach Hause. An der Ecke Frishman umarmen wir uns und ich gehe alleine weiter. Es ist noch früh, aber wir sind beide müde. Kurz nach 21 Uhr bin ich fast bei meiner Haustür angekommen, ich blicke auf die Ilka Bar schräg gegenüber von meiner Wohnung, die immer voll ist, die immer gute Laune macht und gehe kurz danach ins Bett.
Letzte Woche Donnerstag Abend lege ich meine Kinder schlafen und mich selbst danach aufs Sofa. Gegen 21 Uhr höre ich merkwürdige Geräusche von draussen. Ich klappe den Laptop zu und horche in Richtung Fenster. Schüsse?, ist mein erster Gedanke. Was für Schüsse?, mein zweiter. Vielleicht Feuerwerkskörper? Ich verbringe im Moment viel Zeit in Jaffa und die arabischen Bewohner dort lieben ihre Böller an Ramadan. Aber es scheint mir unwahrscheinlich, dass jemand mitten auf der Dizengoff Feuerwerkskörper in die Luft jagt.
Da weiss ich, etwas stimmt hier nicht
Ich laufe zum grossen Badezimmerfenster und blicke in den schummrigen Hof (meine Wohnung geht komplett nach hinten raus). Sehe, wie dort ein Mann, ein Baby in der Tragetasche vor der Brust, leicht geduckt entlang huscht. Da weiss ich, etwas stimmt hier nicht. Ich rufe den Vater meiner Kinder an. Wo bist du? Ich glaube auf der Dizengoff gab es ein Terroranschlag. Es ist fast routiniert, wie mein Kopf das alles sofort richtig einordnet. Es ist auch bereits das zweite Mal, dass das passiert. Vor sechs Jahren hat ein arabischer Israeli an einem Freitagnachmittag nur ein paar Bars weiter zwei Menschen erschossen. Es ist die Art von Deja-vu, mit dem wir hier in Israel leben müssen, ob wir wollen oder nicht.
Ich versuche News zu schauen. Es dauert ewig, weil mein Internet nicht funktioniert. Kurz darauf mehr Schüsse. Dann Schreie. Dann Stille. Die Angst kriecht mir die Kehle hoch. Panik. Ich beginne, zu zählen. Immer wenn ich kurz vor einer Panikattacke stehe, zähle ich langsam bis 14. Wenn ich bei 14 angekommen bin, fange ich wieder von vorne an. Das mache ich so lange, bis ich das Gefühl habe, ich kann wieder normal atmen. In der Zwischenzeit: Whatsapp-Nachrichten, Telefonieren. Wo bist du? Geht es dir gut? Ja, ich hab alles gehört. Im Zimmer neben mir schlafen meine Söhne. Sie haben schon beim letzten Krieg die meisten nächtlichen Raketenangriffe verpennt. Ihr Schlafzimmer ist auch der Bunkerraum in unserer Wohnung, dickere Wände, ein dichtes Fenster, und sowieso, die beiden sind echte Tel Avivis, Lärm macht ihnen nichts aus. Ihr Vater ruft noch einmal an, „mach die Jalousien und die Fenster zu, verschliess die Türen, lass niemanden rein. Bleib weit weg von der Wohnungstür, schau nicht einmal durch den Spion.“ Seine Worte machen mir Angst. „Ich bin hier ganz alleine mit den Kindern“, sage ich. „Ich weiss“, sagt er. Irgendwann bekomme ich endlich die Nachrichten an. Inzwischen sind vielleicht 40 Minuten vergangen. Ich sehe auf dem Bildschirm, wie schwer bewaffnete Polizisten und Militär unten an meinem Haus vorbeilaufen. Der Terrorist oder die Terroristen, bisher weiss man nichts genaues, sind noch auf der Flucht. Alle Anwohner Tel Avivs werden aufgefordert, in ihren Wohnungen zu bleiben.
Nur ein Tag liegt zwischen Leben und Tod
Ich schaue auf die Uhr und da wird es mir klar: Nur ein Tag liegt zwischen Leben und Tod. Einen Abend zuvor bin ich um die genau die Uhrzeit an der Bar vorbeigelaufen, an der ein Abend später ein Mensch auf andere Menschen schiesst und drei von ihnen ermordet. 24 Stunden liegen zwischen Glück und Unglück. 1440 Minuten zwischen einem Leben, in dem der Nahostkonflikt zwar nicht vergessen werden kann, aber doch oft kurz ignoriert und einem Leben, in dem genau dieser Konflikt eine klaffende Wunde, einen wahrscheinlich niemals wieder verschwindenden Schmerz, hinterlässt. So wenig Zeit liegt zwischen meinen Kindern, die mit mir, ihrer Mutter, aufwachsen dürfen und den drei Kindern, die bei dem Terroranschlag in meiner Strasse ihren Vater verloren haben.
Ich verbringe eine unruhige Nacht. Irgendwann wirft die Polizei noch eine Granate in einen der Häusereingänge neben mir, weil sie dort den Terroristen vermutet. Irgendwann hämmert es an meine Tür, ein Polizist, der prüfen will, ob bei uns alles okay ist (ich mache erst nach mehrmaligem Hämmern auf, weil ich ewig hin- und herüberlege, ob das vielleicht ein als Polizist verkleideter Terrorist ist), irgendwann lege ich mich auf der Besuchermatratze neben meinen Kindern unter ohrenbetäubenden Lärm der über uns kreisenden Hubschrauber schlafen. Am nächsten Morgen wache ich auf, lese, dass der Terrorist in Jaffa erschossen wurde und fühle mich wieder sicher. An diesem Freitag gehe ich wieder ganz normal raus, ich übergebe die Kinder ihrem Vater, der sie zu einem Karate-Workshop bringt. Ich kaufe Blumen, trinke ein Fruchtshake und abends gehe ich mit Freunden essen. Das einzige besondere: Ich berichte für einen deutschen Fernsehsender von der Unglücksstelle. Ansonsten ganz viel Routine, ansonsten ganz viel Leben.
Das kann man niemandem, der nicht in Israel lebt, erklären. Auch am Freitag erreichen mich noch besorgte Anrufe aus Deutschland, aber ich bin zu beschäftigt, um sie anzunehmen. Ich fürchte, wenn man hier nicht verrückt werden will, ist das der einzige Weg, zu leben. Wir müssen einfach weitermachen. Und ist der Schmerz, die Angst, die Panik auch noch so gross, die Freiheit zu leben, werde ich mir nicht nehmen lassen. Wir feiern in dieser Woche Pessach, das Fest der Freiheit. Eigentlich wollte ich an dieser Stelle ein lustiges Geschichtchen über Pessachputz und das Horten von Brot schreiben, stattdessen schreibe ich nun über Leben und Tod. Vor allem aber über das Leben und die Freiheit, zu leben. Eine Freiheit, deren echten Wert man erkennt, wenn sie bedroht ist. Und eine Freiheit, die man genau dann umso stärker festhalten muss.