MAGAZIN – LEBEN IN ISRAEL

Ausstellung im Tel Aviv Museum: Wege, die nicht genommen wurden

in Israel Zwischenzeilen/Leben, Kultur & Sport

Gefragt, in welcher Rolle ihrer gezeichneten Figuren sich die Malerin Netta Lieber Sheffer am ehesten sieht, antwortet diese nachdenklich: „In der Rolle der Historikerin. Vergessene Ereignisse zu extrahieren, sie noch einmal neu zu denken, ihnen einen Moment zu geben, sie zu hinterfragen.“ Es ist die perfekte These für ihre Ausstellung „Zerbrochene Hoffnungen und nicht begangene Pfade“, die zwischen tatsächlichen historischen Fakten und der künstlerischen Interpretationsfähigkeit dieser hin- und herpendelt.

In grossen, berührenden Zeichnungen erzählt die Künstlerin jüdische Geschichte. (Bild: Avi Amsalem).

In monumentalen Kohlezeichnungen von Booten, die im leeren Raum segeln und Figuren und Symbole aus der Vergangenheit tragen, spürt die Künstlerin Ideen nach, die an den Rand gedrängt wurden – darunter Herzls utopische Vision für den jüdischen Staat; die Diaspora als Ideologie in der bündischen Vision („Wo immer wir leben, das ist unser Land!“); die Sehnsucht, zur biblischen Lebensweise zurückzukehren, wobei 2.000 Jahre Exil übersprungen werden; der kanaanäische Versuch, die jüdische Nation mit dem lokalen Raum zu verbinden, der auf dem antiken Hebraismus basiert; die Wurzeln der Verbindung zwischen jüdischer, mizrachischer und arabischer Identität.

„New Blood“ von Netta Lieber Sheffer (Bild: Avi Amsalem).

Ihre Boote sind angefüllt mit Persönlichkeiten, die sich im wahren Leben nicht getroffen haben mögen, aber für gemeinsame Ideale und Ideologien stehen. Sie alle sind Teil der jüdischen Geschichte, der Diaspora, und des Zionismus. Sie alle werfen Fragen zur Vergangenheit auf, spielen mit der Idee des „was-wäre-wenn“. Vor allem aber sind sie eine berührende Betrachtung der Historie Israels. Und obwohl die Künstlerin die Arbeit an den Zeichnungen vor dem 7. Oktober begonnen hat, durch das Massaker und den darauf folgenden Krieg sind sie nur umso relevanter geworden. Das unterstützt auch ein Zitat, welches in der Ausstellung zu lesen ist:

In einem Artikel aus dem Jahr 1948 argumentierte Isaac Nachman Steinberg, ein wichtiger Aktivist der jüdischen Territorialbewegung, dass der neu gegründete Staat Israel eine problematische Option für die jüdische Besiedlung sei. Er wies nicht nur darauf hin, dass er von feindlichen arabischen Ländern umgeben sei und die Bürger sich dem Militär und der Regierung absolut verpflichtet fühlen müssten, sondern auch auf die geistige Gefahr: „Das Land wird in einer militaristischen Atmosphäre gross werden“, schrieb er und fügte hinzu: „Ein erheblicher Teil der Erziehung seiner Jugend wird den militärisch-strategischen Erfordernissen gewidmet sein müssen, und gleichzeitig werden geistige, moralische und kooperative Werte an Priorität verlieren.“

Weitere Informationen zur Ausstellung:

Netta Lieber Sheffer ist Preisträgerin des Haim-Shiff-Preises für figurativ-realistische Kunst 2023.

Was wäre geschehen, wenn die Geschichte andere Wege der jüdischen Existenz gewählt hätte? Die Ausstellung von Netta Lieber Sheffer besucht historische Scheidewege, die mit der Frage der jüdischen Identität und Besiedlung vor der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 verbunden sind.

https://www.tamuseum.org.il/en/exhibition/netta-lieber-sheffer-shattered-hopes-and-roads-not-taken/

Die Karte der Alternativen: Die Künstlerin zeichnete all die Orte, die man mal als Heimstätte für einen jüdischen Staat andachte (Bild: KHC).

Redakteurin Katharina Höftmann Ciobotaru arbeitete im Auslandsbüro der dpa in Tel Aviv und für die WELT ONLINE. Sie lebt als freie Journalistin und Buchautorin in Tel Aviv («Guten Morgen Tel Aviv», «Die letzte Sünde»).

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