MAGAZIN – LEBEN IN ISRAEL

„Die Familien haben das Gefühl, man hat sie vergessen“

in Israel Zwischenzeilen/Leben, Kultur & Sport

Am 7. Oktober sah Lihie Gilhar wie fast alle Israelis geschockt zu, wie die Hamas den Süden Israels überfiel und etwa 1200 Israelis brutal ermordete. Die Bilder, wie Terroristen die jungen Frauen Naama Levy und Shani Louk durch die Strassen Gazas verletzt und ermordet vorführten, gingen auch ihr wochenlang nicht aus dem Kopf. „Dann verging die Zeit und die ganze Aufmerksamkeit widmete sich den Geiseln und das ist ja auch völlig gerechtfertigt. Die einzigen Stories von den Ermordeten, die lange Zeit erzählt wurden, waren die Helden-Geschichten und auch das ist okay. Aber ich fragte mich, was mit all den Menschen ist, von denen wir noch gar nichts wissen.“

Mit der Motivation, Licht ins Dunkle zu bringen, entwickelte Lihie Gilhar die Idee, eine grosse Lichtinstallation mit 1200 Lampen, für jedes Opfer des 7. Oktober eins, in Tel Aviv auf dem Habima-Platz zu verwirklichen. Die Stadtverwaltung gab ihr sofort grünes Licht und Gilhar begann, Geld für die Errichtung eines solchen Denkmals zu sammeln. Etwa die Hälfte der benötigten 130.000 Schekel hat die 52-Jährige, die eigentlich seit 18 Jahren als Psychotherapeutin arbeitet, schon. Aber bei der Arbeit an den vielen Geschichten der Opfer, wuchs ihr Wunsch, deren Geschichten schon jetzt zu erzählen. Auf der Instagram-Seite „bringthemlight_oct7“ hat sie seitdem mehr als 200 Videos veröffentlicht, die auf berührende Weise von den Opfern des 7. Oktobers berichten.

Da ist die junge Frau, Stav Barazani, die Sonderpädagogik studieren wollte und mit einem Bruder mit Behinderung aufwuchs, um den sie sich liebevoll mitkümmerte. Das ist die Geschichte des jungen Keshet Casarotti Kalfi, der mit sechs Jahren überall nur auf Händen hinlief, und dessen Portrait vom Nova-Festival, kurz bevor er mit nur 21 Jahren ermordet wurde, viral ging, weil er darauf aussah, wie ein Engel. Und natürlich auch die Geschichte von Shani Louk, der jungen Deutsch-Israelin, deren lebloser Körper von Hamas-Terroristen vor laufender Kamera malträtiert und schliesslich entführt wurde.

Aufnahmen aus den Videos über Keshet Casarotti Kalfi und Shani Louk. (Bild: Screenshot)

Bisher hat die Psychotherapeutin vor allem junge Opfer portraitiert, die auf dem Nova-Festival waren. Dabei spricht Gilhar zuerst immer telefonisch mit den Angehörigen und stellt ihnen dann schriftlich vier Fragen:
Was war seine/ihre Leidenschaft?
Worauf war sie/er besonders stolz?
Was war seine/ihre grösste Errungenschaft?
Und: Welche Erinnerung ist euch mit ihr/ihm heilig?
Aus den Antworten und dem Bildmaterial der Familien schneidet Gilhar gemeinsam mit einem Freund dann die Videos zusammen. „Die Familien, vor allem die Eltern, sind extrem dankbar dafür, oft sagen sie mir, dass ich die Essenz der Persönlichkeiten ihrer Kinder erfasst habe. Die meisten beschreiben ihre Kinder als ‚Licht‘ und sind so sehr froh, dass an sie erinnert wird. Denn viele von ihnen haben das Gefühl, man hat sie vergessen.“

Für Lihie Gilhar ist es wichtig, den Familien genau dieses Gefühl abzunehmen. Ihnen einen Ort für ihre Trauer einzuräumen. „In Israel wird dem Trauern wenig Zeit eingeräumt. Selbst der Gedenktag für Gefallene und Opfer des Terrorismus geht sofort in die Feierlichkeiten des Unabhängigkeitstages über. Und im Falle des 7. Oktobers ist seitdem so viel passiert, dass kaum noch über die Todesopfer gesprochen wird.“ Mit dem Projekt „Bring them Light“ hilft sie nun einem ganzen Land zu trauern.

Lihie Gilhar betreibt das Projekt „Bring Them Light“ neben ihrer Arbeit als Psychotherapeutin (Bild privat).

Weitere Informationen zum Projekt und zu Spenden.

Redakteurin Katharina Höftmann Ciobotaru arbeitete im Auslandsbüro der dpa in Tel Aviv und für die WELT ONLINE. Sie lebt als freie Journalistin und Buchautorin in Tel Aviv («Guten Morgen Tel Aviv», «Die letzte Sünde»).

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