Als Golda (Name geändert, Anm. d. Red.) im letzten Sommer in ihrer Heimatstadt Odessa zu Besuch war, überlegte sie, vielleicht doch zurück in die Ukraine zu ziehen. Während in ihrem neuen Heimatland Israel immer noch strengste Corona-Regelungen herrschten, Touristen beispielsweise noch immer nicht ins Land durften, strotzte Odessa geradezu vor Leben. Überall flanierten Urlauber, die Cafés und Restaurants hatten wieder ganz normal geöffnet, die Menschen schienen glücklich und entspannt. Nicht einmal ein Jahr später war all das vorbei. Als Golda nach Odessa zurückkam, herrschte dort bereits Krieg. „Als ich zurückkam, hatten sich die Gesichter der Menschen völlig verändert. Sie alle sahen mindestens zehn Jahre älter aus.“
Goldas letzter Besuch in Odessa im April dieses Jahres war Teil einer fast einmonatigen Odyssee, ihre Kinder aus dem Krieg zu sich nach Israel zu holen. Eine Odyssee, die eigentlich damit begann, dass Goldas Ex-Mann die Kinder nach einem Heimaturlaub im Sommer 2017 nicht mehr zurück nach Israel ließ. Die vier hatten 2015 Aliya gemacht, aber während Golda das neue Leben in Haifa gut meisterte, wurde ihr damaliger Mann immer unzufriedener. So unzufrieden, dass er ihr schließlich die Kinder entzog, weil er sein Leben nicht mehr in Israel sah. Seitdem kämpft Golda darum, ihre Kinder, inzwischen 14 und 16 Jahre alt, zurückzubekommen und wieder nach Israel zu holen. Ein Kampf, bei dem sie sich oft fühlte, als hätte sie von Anfang an keine Chance: „Ich hatte vorher noch nie in meinem Leben etwas mit Rechtsanwälten zu tun. Ich kannte auch niemanden, der etwas Ähnliches durchgemacht hatte. Und ich stieß überall nur auf Widerstände, die Leute in Israel schickten mich in die Ukraine und umgekehrt. Niemand konnte mir wirklich helfen, der Prozess zog sich wie Kaugummi und dann kam auch noch Corona“, erzählt Golda am Telefon. Sie möchte lieber anonym bleiben, wegen ihrer Arbeit als Lehrerin, aber auch wegen ihrer Kinder, die inzwischen endlich in Israel sind und hier nochmal ganz neu Fuß fassen müssen.
Als Russland, auch für Golda und viele ihrer ukrainischen Freunde völlig überraschend, die Ukraine angriff, beschloss die Anfang 40-Jährige, ihre Kinder nach Israel zu bringen, koste es, was es wolle. Der Krieg war für Golda fast so etwas wie die erste reale Chance, die sie in dem Kampf um ihre Kinder bekam, denn nun begriffen alle, dass sie ihre Kinder aus dem Land holen musste, zumal der Vater mittlerweile verschwunden war: „Meine Kinder waren zu Kriegsbeginn im Süden des Landes. Am einfachsten wäre es gewesen, nach Moldawien zu reisen, aber auch dort hatte der Krieg zu Unterbrechungen im Flugverkehr geführt, also kaufte ich mir ein Ticket nach Bukarest. Ich war noch nie in meinem Leben in Rumänien, aber ich hatte einfach Glück, weil ich überall Freunde und Bekannte fand, die mir halfen.“ Die erste glückliche Fügung erlebte Golda, als sie vor ihrem Abflug noch einmal ihre Maniküristin besuchte, denn die hatte selbst Familie in der Ukraine und kannte einen rumänischen Taxifahrer, der Golda und ihre Kinder aus dem Kriegsgebiet rausfahren konnte.
Wenige Tage später fielen Bomben
Mit Hilfe ihrer Eltern, die in der Ukraine auf die beiden Kinder von Golda zeitweise aufpassten, kratzte Golda die benötigte Summe für den Fahrer zusammen und schaffte den ersten wichtigen Schritt: Sie brachte ihre Kinder nach Bukarest, nur wenige Tage bevor in dem Gebiet, in dem die Kinder sich befunden hatten, Bomben fielen. Ihr einer Sohn besaß gar keinen Pass mehr, aber die rumänischen Grenzbeamten drückten ein Auge zu. In Bukarest waren die drei endlich gemeinsam in Sicherheit. Aber weil der Vater die israelischen Pässe der Kinder zerstört und der eine Sohn auch noch seinen ukrainischen Pass verloren hatte, begann nun ein bürokratisches Hickhack. Denn Pässe für Minderjährige kann man im israelischen Konsulat nur dann beantragen, wenn beide Eltern physisch vor Ort sind. Aber jetzt passierte, was Golda in den Jahren zuvor gefehlt hatte: Sie hatte endlich ein bisschen Glück, aber vor allem bekam sie Hilfe von allen Seiten. Von ihren Freunden, Kollegen von der Arbeit – gemeinsam überlegten ihre Bekannten, wie sie Golda und ihren Kindern helfen könnten.
Eine der wichtigsten Unterstützerinnen wurde schließlich die Rebbezin der Chabad in Bukarest. Vermittelt über einen Schweizer Bekannten, organisierte sie eine Wohnung für Golda und ihre Kinder in der rumänischen Hauptstadt. Das gab Golda finanziell Luft, um die nächsten Schritte auszuloten. Bei der Chabad fanden die drei ein temporäres Zuhause, feierten sogar Pessach. „Über die Pessachfeiertage arbeitete fast niemand, so dass wir mit unserer Anfrage an das israelische Innenministerium nicht weiterkamen. Die Jewish Agency kümmerte sich nur um Neueinwanderer, aber das waren wir nicht. Also warteten wir und genossen dank der vielen Hilfe erst mal einfach nur unsere Zeit in Bukarest. Wir gingen in die Parks und schauten uns die Stadt an.“
Drei Wochen später landeten die drei dann endlich mit einem vorübergehenden Passierschein in Israel. „Ich bin so froh, meine Kinder endlich bei mir zu haben. Israel hat ein Programm für eine sehr langsame und behutsame Integration für Teenager und meine Kinder fühlen sich hier wohl. Wir machen viele Picknicks und grillen mit Freunden“, erzählt Golda und betont dann, was unbedingt in den Artikel soll, weil es ihr so wichtig ist, dass noch einmal zu sagen: „Ohne die Hilfe meiner Freunde und Bekannten hätte das alles viel länger gedauert, alleine hätten wir es niemals geschafft.“