MAGAZIN – LEBEN IN ISRAEL

„Jede Erfahrung war unbedeutend neben dem, was sie durchgemacht hatten“

in Israel Zwischenzeilen/Leben, Kultur & Sport/Reportagen

Zipi Gon-Gross ist eine bekannte israelische Radiomoderatorin und Psychologin. Sie ist aber auch die Tochter von Holocaust-Überlebenden und hat sich sowohl für ihre Arbeit als auch privat intensiv mit den Erlebnissen und Erfahrungen der „Zweiten Generation“ auseinandergesetzt. Anlässlich des Holocaustgedenktages haben wir sie zum Interview getroffen…

Das Interview führte Katharina Höftmann

Zwischenzeilen (ZZ): Wann verstanden Sie zum ersten Mal, dass Ihre Mutter, Ihre Eltern, furchtbare Dinge erlebt hatten?

Zipi Gon-Gross (Gon-Gross): Damals sprachen Eltern nicht mit ihren Kindern über allzu private Dinge, weder über Scheidungen noch über die eigene Biografie. Anders als andere Überlebende, die geradezu obsessiv von ihren Erlebnissen berichteten, hatte meine Mutter beschlossen, dass ich „nicht von so furchtbaren Dingen wissen“ müsse. Aber ich und mein Bruder spürten immer, dass es da Geheimnisse gab…

ZZ: Wurde in der Schule über den Holocaust gesprochen?

Gon-Gross: Nein. Niemand wollte darüber sprechen. Bis Ende der 50er Jahre war die Shoa nicht einmal Teil des Lehrplans. Das änderte sich erst mit dem Prozess um Adolf Eichmann. Plötzlich hingen die Menschen am Radio und hörten die Aufzeichnungen aus dem Gerichtssaal. Selbst in der Schule. Meine Mutter erzählte erst dann so richtig von ihren Erlebnissen, als meine Tochter mit der Schule nach Polen fuhr, um dort die Gedenkstätten und Konzentrationslager zu besuchen.

„Die Angst war ganz tief in ihr drin“

ZZ: Was hat Ihre Mutter schliesslich erzählt?

Gon-Gross: Meine Eltern kamen aus Dubno in Polen, was heute in der Ukraine liegt. Sie flohen aus dem Ghetto und irrten dann eine Weile durch die Wälder, bevor sie sich den polnischen Partisanen anschlossen. Die letzten 18 Monate des Krieges verbrachten sie versteckt bei einer tschechischen Familie. Drei Monate in einer Dachkammer und mehr als ein Jahr in einem Loch unter einem Stall auf ihrem Hof. Ich habe mir oft vorgestellt, wie das gewesen sein muss, zu zweit in diesem Loch. In totaler Dunkelheit, voller Angst vor jedem Geräusch, jeder Bewegung, komplett angewiesen auf die Hilfe zweier Fremder, die sie schützten, ihnen Essen brachten und ihre Exkremente entfernten. Von ihren Helfern hat meine Mutter schon früh erzählt, ich wusste auch, dass wir ihnen Geld und Geschenke schickten. Meiner Mutter war es sehr wichtig, dass wir die beiden nie vergassen…

Die Mutter von Zipi Gon-Gross, Rosa Gon, (re) und ihre Retterin Luba Kasper in Tschechien.

ZZ: Sie haben die Familie mit ihrer Mutter schliesslich auch in Tschechien besucht?

Gon-Gross: Genau, ich stehe bis heute in Kontakt mit der Tochter des Paares, das meinen Eltern das Leben gerettet hat und sie wurden als Gerechte unter den Völkern anerkannt. Meine Eltern waren ihnen unheimlich dankbar, aber natürlich blieben sie ihr ganzes Leben sehr misstrauisch. Als wir damals in Tschechien waren, sah meine Mutter die fremden Leute an und sagte zu mir: „Sie alle können sich von einem Moment zum anderen in Antisemiten verwandeln.“ Diese Angst war ganz tief in ihr drin.

ZZ: Wie spürten Sie als Tochter die Angst noch?

Gon-Gross: Unsere Familie war natürlich anders. Zuerst einmal hatten wir keine Grosseltern, kaum andere Verwandte. Dreizehn Mitglieder der Familie meiner Mutter wurden ermordet. Und meine Eltern waren immer sehr ängstlich: Sie wollten mich nicht auf den Pfadfinder-Ausflug mitfahren lassen. Ich kann bis heute kein Fahrrad fahren und wenn gegessen wurde, dann immer zuerst die Suppe, denn das Fleisch könne man sich notfalls in die Taschen stecken. Aber das ging noch tiefer: Nichts, was wir erlebten, war dramatisch genug. Jede Erfahrung war unbedeutend neben dem, was sie durchgemacht hatten. Als mein erstes Kind in den 80er Jahren mehrere Monate zu früh geboren wurde und ich furchtbare Ängste ausstand, sagte meine Mutter nur zu mir: „Es gibt keinen Grund zu weinen. Du bist noch jung, du lebst, du kannst noch mehr Kinder bekommen.“

ZZ: Wie geht man mit so etwas um?

Gon-Gross: Das ist natürlich sehr schwierig. Ich musste immer für meine Mutter mitfühlen, weil ihre Gefühle so unterdrückt waren, sie eben nicht so reagierte, wie man es erwartete. Und ich stand unter einem hohen Druck, weil sie nicht studieren durften und konnten, erwarteten sie von mir umso bessere Leistungen.

Schreiben als Therapie

ZZ: Sie haben einige sehr erfolgreiche Kinderbücher geschrieben, die sich mit schwierigen Themen wie Scheidung der Eltern oder Legasthenie und erst 2001 ihr Buch „Nobody’s Child“ herausgebracht, in dem sie sich autobiografisch mit den Erfahrungen der 2. Generation auseinandersetzen. Wie kam es zu dem Buch?

Gon-Gross: Ich konnte das Buch nicht schreiben, so lange meine Mutter noch lebte, da es auch gewisse Kritik enthält. Als sie 1997 an Krebs erkrankte und kurz danach verstarb, begann ich mir Notizen zu machen. Ich konnte nichts anderes schreiben danach, ich wusste, ich muss diese Geschichte erzählen, zuerst mir selbst und dann auch meinen Lesern. Das war ein therapeutischer Prozess. Und ich habe während der Recherche für das Buch noch ganz neue Sachen herausgefunden: So war meine Mutter als sie starb nicht 80 Jahre alt, wie ich dachte, sondern schon 82. Polnische Frauen verraten ungern ihr Alter und auch meine Mutter hat uns ihr ganzes Leben lang beschwindelt – das hat mich dann glücklich gemacht, dass sie noch zwei Jahre mehr Leben hatte, als ich dachte.

ZZ: Sie sind auch Entwicklungspsychologin. Wie kann man den Holocaust kindgerecht erklären? Gerade in einem Land wie Israel, wo am Gedenktag die Sirene läutet und man das den Kindern irgendwie erklären muss.

Gon-Gross: Ich glaube das beste ist, die Wahrheit zu sagen aber nicht die ganze. Die Sirene am Holocaustgedenktag kann für Kinder sehr furchterregend sein. Auch meine Enkeltochter hat damals sehr emotional auf das Thema reagiert. Wir haben bei unseren Erzählungen dann vor allem von den Menschen erzählt, die meinen Eltern geholfen haben. Und über das Überleben gesprochen.

ZZ: Es gibt immer weniger Überlebende, die von ihren Erlebnissen erzählen können. Wie kann man die Erinnerungen an sie und den Holocaust trotzdem wachhalten?

Gon-Gross: Yad Vashem hat Tausende Filme mit Zeugenberichten aufgenommen. Diese Informationen werden bleiben und immer abrufbar sein. Es gibt neue Formate, wie das Instagram-Projekt „Eva.Stories“, die vor allem jungen Menschen die Geschichte in ihrer eigenen Sprache näher bringen. Dazu kommen all die Bücher, Filme und Denkmäler – ich glaube das ist der beste Weg, um die Erinnerung am leben zu halten.

ZZ: Frau Gon-Gross, vielen Dank für das Gespräch.

Zipi Gon-Gross in ihrer Wohnung in Tel Aviv (Bild: KHC).

Redakteurin Katharina Höftmann Ciobotaru arbeitete im Auslandsbüro der dpa in Tel Aviv und für die WELT ONLINE. Sie lebt als freie Journalistin und Buchautorin in Tel Aviv («Guten Morgen Tel Aviv», «Die letzte Sünde»).

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