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Sozialpolitik in Israel: „Wir brauchen ein drastisches Programm zur Bekämpfung von Armut“

in Israel Zwischenzeilen/Reportagen

Israel ist vor allem als High-Tech und Start-up Nation bekannt. Doch die landesweiten Proteste 2011 haben gezeigt, dass in der Sozialpolitik einiges verbesserungswürdig ist. Der Vizedirektor für Forschung am israelischen Sozialversicherungsinstitut Dr. Daniel Gottlieb ist Experte für soziale Fragen des Landes. Seiner Meinung nach gibt es in Israel trotz der schwierigen Sicherheitssituation Geld für soziale Belange – es geht nur an die falschen Stellen.

Wir haben mit ihm über die Probleme der Mittelschicht, die hohe Armutsquote und Lösungsvorschläge gesprochen…

Das Interview führte Katharina Höftmann

Zwischenzeilen (ZZ): Zedek Chevrati, (deutsch: soziale Gerechtigkeit), war sicherlich das Wort des Jahres 2011. Die landesweiten Proteste, die im Sommer 2011 am Rothschild Boulevard in Tel Aviv begonnen hatten, liefen unter diesem Motto. Wie ungerecht geht es in Israel wirklich zu?

Daniel Gottlieb (Gottlieb): Es gab zu dieser Zeit weltweit einen Trend für solche Demonstrationen, in Spanien, in England, in den USA – vor allem unter jüngeren Leuten gab es eine Welle der Unzufriedenheit. Und auch in Israel haben nicht die Armen demonstriert, sondern die Unzufriedenen. Es war eine Bewegung, die vor allem von den Schwierigkeiten der jungen Israelis ausgelöst wurde. Denjenigen, die es ungerecht finden, dass bestimmte Gruppen, nämlich vor allem die Orthodoxen, keinen Armeedienst leisten. Wäre es wirklich um soziale Gerechtigkeit gegangen, hätte die Arbeiterpartei viel stärker aus diesen Wahlen hervorgehen müssen.

ZZ: Es ging auch und vor allem darum, dass junge Familien in Israel nicht genug Geld verdienen um die hohen Lebenserhaltungskosten tragen zu können.

Gottlieb: Absolut. Wir haben in Israel grosse soziale Probleme. Im OECD-Vergleich sind wir führend bei der Kinderarmut, bei der Armut von Menschen im Arbeitsalter, bei der Armut der älteren Leute sind wir etwas besser geworden, aber liegen immer noch fünf Prozentpunkte über dem Durchschnitt. Aber auch die so genannte Mittelschicht im Land ist oftmals nicht weit von der Armut entfernt. Davon sind vor allem junge Leute betroffen. Die Chancen einer jungen Familie, sich eine Wohnung kaufen zu können, sind in den letzten Jahren von 50 auf rund 30 Prozent gesunken.

ZZ: Was ist seit den Demonstrationen passiert?

Gottlieb: Gewisse Dinge. Die Kindergärten für drei bis fünfjährige sind jetzt kostenlos. Das ist gut.

ZZ: Bis die Kinder drei Jahre alt sind, kostet der Kindergarten aber immer noch sehr viel Geld. Und dass, obwohl es nur drei Monate Elternzeit gibt. Manche Frauen arbeiten und dreiviertel ihres Gehaltes geht für die Kinderkrippe drauf. Damit bestraft man doch diejenigen, die arbeiten gehen. 3

Gottlieb: Das stimmt und das ist absolut nicht zufriedenstellend und es bedingt ja auch, dass viele junge Familien trotzdem sie arbeiten nicht weit von der Armutsgrenze entfernt sind. In Reaktion auf die Demonstrationen haben wir für das Sozialversicherungsinstitut nur ein paar Monate später einen Bericht herausgegeben, was man für diese Gruppe tun könnte. Wir haben Ideen entwickelt, wie man kostengünstig Veränderungen herbeiführen und die Ungleichheit reduzieren könnte. Leider wurde dieser Bericht nicht vom Trachtenberg Komitee berücksichtigt.

ZZ: Warum nicht?

Gottlieb: Politik wird in Israel in einem sehr kleinen Kreis gemacht. Die wichtigsten Entscheidungen werden von wenigen Leuten getroffen, die der Regierung genehm sind. Die Budgetgruppe im Finanzministerium ist so ein Zirkel.

„Die Einkommensverteilung in Israel ist eine der schlechtesten im OECD-Vergleich“

ZZ: Was sind Konzeptideen ihrer Forschungsgruppe, wie man die Mittelschicht entlasten könnte?

Gottlieb: Unter Benjamin Netanjahu wurde 2005/2006 eine grosse Einkommensreform umgesetzt. Damals wurden die Steuern vor allem für sehr wohlhabende Bürger gesenkt. Wenn wir die Einkommenssteuer von 2004 wieder einführen würden, kämen wir auf zusätzliche Einnahmen in Höhe von 15 Milliarden Schekel (etwa 3 Milliarden Euro, 4 Milliarden CHF). Mit dem Geld könnten wir eine Menge Programme finanzieren. Aber das ist natürlich ein bisschen naiv, denn das wird nicht passieren.

ZZ: In Israel gibt es eine grosse, stabile Oberschicht. Sollte diese mehr zur Kasse gebeten werden?

Gottlieb: Ein weiterer Vorschlag, den wir gemacht haben, bezog sich genau darauf. Wir meinen, dass man die Besteuerung von Zinseinnahmen erhöhen könnte. Diese Steuern sind mit 25 Prozent Besteuerung aktuell deutlich niedriger veranschlagt, als die Besteuerung des Einkommens, die bis zu 48 Prozent betragen kann. Die Besteuerung von Zinseinnahmen betrifft zu mehr als 50 Prozent Leute mit einem hohen bis sehr hohen Einkommen. Damit kommt diese günstige Besteuerung vor allem reichen Leuten zu Gute. Mit einer Erhöhung könnten wir 9 Milliarden Schekel (ca. 1,8 Milliarden Euro, 2,2 Milliarden CHF) pro Jahr an Einnahmen für den Haushalt dazu gewinnen. Eine andere Möglichkeit, wäre eine Vermögenssteuer einzuführen, wie es sie in der Schweiz, in Frankreich und in Luxemburg gibt. Damit würden wir weitere 4 Milliarden Schekel generieren. Es wäre ja genug Geld da. Aber aus all unseren Vorschlägen ist nichts geworden.

ZZ: Aktuell verdienen 73 Prozent der israelischen Arbeitnehmer weniger als 8.000 Schekel (1600 Euro, 2000 CHF). 40 Prozent der Bürger weniger als umgerechnet 950 CHF (770 Euro). Letztere bezahlen so gut wie keine Einkommensteuer. Was muss getan werden, damit sich diese Situation verbessert?

Gottlieb: Die Einkommensverteilung unter israelischen Bürgern ist eine der schlechtesten in der OECD. Neben der Steuerreform ist in der Vergangenheit noch etwas anderes, ganz entscheidendes in Israel passiert: Seit ungefähr 1995 wurde die Zahl der Palästinenser, die in Israel arbeiteten aus Sicherheitsgründen erheblich reduziert. Stattdessen wurden mehr als 300.000 Gastarbeiter, vor allem von den Philippinnen, ins Land geholt. Diese Gastarbeiter sind zum Teil sehr qualifiziert, aber man erlaubt ihnen nur im Niedriglohnsektor, wie in der Altenpflege, auf Baustellen, in der Landwirtschaft usw., zu arbeiten. Die Gastarbeiter wurden ohne Grenzen ins Land geholt und haben das Land förmlich überschwemmt. Viele weitere sind illegal gekommen. Während die Palästinenser genau wussten, was ihre Arbeit wert war, müssen die Gastarbeiter zum Teil für Hungerlöhne arbeiten. Arbeitsgesetze werden nicht durchgesetzt. Damit stellen sie eine erhebliche Konkurrenz für Israelis dar, die eine geringe Ausbildung haben und ebenfalls ausschliesslich in einfachen Berufen arbeiten können. Die Gehälter für Arbeitnehmer mit niedrigem Ausbildungsniveau sind also insgesamt stark gesunken.

ZZ: Und die grosse Zahl afrikanischer Flüchtlinge im Land macht sie Situation sicherlich nicht besser…

Gottlieb: Genau. Diese verzweifelten Menschen arbeiten einfach für sehr wenig Geld und viele Geschäftsleute nutzen das aus. Man könnte entsprechende Arbeitgeber zur Verantwortung ziehen, 4 aber das wird nicht gemacht. Und damit fallen viele Israelis aus dem Arbeitsmarkt. Seit 2003 steigt die Zahl derjenigen Israelis, die soziale Unterstützung benötigen, immer mehr. Die Regierung sagt, die sollen arbeiten gehen und kürzt die sozialen Leistungen. Und damit steigt natürlich die Armut.

„Auf dem hiesigen Arbeitsmarkt herrschen Verhältnisse wie im Wilden Westen“

ZZ: Nun sind dies Aspekte die Berufe mit sehr geringem Ausbildungsgrad betreffen. Aber insgesamt ist doch das Lohnniveau im Land sehr niedrig. Und das auch für Leute, die Hochschulabschlüsse haben. Dabei ist Israel ein Land mit einer starken Wirtschaft.

Gottlieb: Das kommt davon, dass auf dem hiesigen Arbeitsmarkt Verhältnisse wie im Wilden Westen herrschen. Rund 14 Prozent der Arbeitnehmer verdienen weniger als Mindestlohn. Der Mindestlohn liegt in Israel bei 4.300 Schekel (ca. 870 Euro, 1070 CHF) und er hat zwei Probleme: Er wird nicht durchgesetzt und gleichzeitig werden alle Gehälter nach dem Mindestlohn bestimmt. Dabei ist der Mindestlohn für Arbeitnehmer gedacht, die keine Ausbildung haben. Aber auch High- Tech Firmen und selbst die Regierung orientieren sich am Mindestlohn.

ZZ: Israel ist ein äusserst heterogenes Land. Die Arbeitsbeteiligung ist vor allem unter den Minderheiten problematisch. Nur 20 Prozent der arabischen Frauen und weniger als 40 Prozent der ultraorthodoxen Männer arbeiten – welche Lösungsansätze gibt es für dieses Problem?

Gottlieb: Hier hat sich in den letzten Jahren viel getan, auch wenn sich dessen kaum jemand in Israel bewusst ist. Die jungen, männlichen Ultraorthodoxen verzeichnen die stärkste Ansteigung der Arbeitsquote. Sie waren bei 20 Prozent und sind mittlerweile bei 40 Prozent. Dasselbe gilt für die Gruppe der arabischen Frauen. Das Problem ist nur weiterhin, dass in diesen Gruppen das Einkommen sehr niedrig ist. Die Leute gehen arbeiten, aber sie kommen trotzdem nicht aus der Armut heraus.

ZZ: Sie sprechen die hohe Armutsquote im Land an. Vor allem die Kinderarmut ist mit 35 Prozent erschreckend hoch. Israel ist weltweit als Start-up Nation und High Tech Nation bekannt…

Gottlieb: Das ist Israel auch. Aber wir sind ein kleines Land mit grossen Schocks. Ich erinnere mich, wie wir bei der Bank of Israel 1990, als die UdSSR zerbrach, die Mitteilung bekamen, dass im selben Jahr viele Einwanderer aus Russland kommen sollten. Also haben wir ein Programm für die Integration von 40.000 Einwanderern vorbereitet. Kurze Zeit später kam der Gouverneur und sagte, sammelt die Programmhefte ein. Macht das Ganze für eine Million. Innerhalb von zwei, drei Jahren ist die israelische Bevölkerung um 15 Prozent angestiegen.

ZZ: Aber die meisten russischen Einwanderer sind sofort arbeiten gegangen.

Gottlieb: Sie gingen arbeiten, ohne viel zu fragen oder klagen. Oftmals in sehr niedrigen Positionen. Bei uns in der Bank of Israel gab es einen Fensterputzer aus Georgien – dort war er der Vizedirektor der Zentralbank.

„2003 begann eine sehr aggressive Anti-Sozial-Politik“

ZZ: Wo liegen also die Ursachen für die hohe Armutsquote in Israel?

Gottlieb: 2003 begann unter dem Finanzminister Benjamin Netanjahu eine sehr aggressive Anti- Sozial-Politik. 2004 hat das Oberste Gericht nach Klagen von Bürgern entschieden, dass die Budgetkürzungen in der Sozialversicherung nicht zu hoch waren. Und das war ein schwerer Schlag für die soziale Situation im Land. Die Armutsquote, vor allem unter den sehr Armen, ist in den zwei Jahren danach stark gestiegen und hat sich seitdem nicht mehr erholt.

ZZ: Was kann man tun, um die Armut zu bekämpfen?

Gottlieb: 1985 betrug die Inflation 500 Prozent. Die Regierung unter Premierminister Schimon Peres war am Boden und wenn er die Bücher öffnete, sah er dass die Inflation seine gesamten Einnahmen frass. Also hat er gemeinsam mit uns, ich habe damals bereits bei der Bank of Israel gearbeitet, ein Programm entwickelt, dass sehr schnell sehr erfolgreich war. Innerhalb von einem 5 halben Jahr konnten wir die Inflation auf 40 Prozent drücken. Dieses Programm habe ich jetzt in meinem aktuellen Anti-Armutsprogramm wieder aufgenommen. Seit damals haben wir praktisch keine Inflation mehr im Land gehabt. Ein ähnlich drastisches Programm müssen wir auch zur Bekämpfung der Armut einführen.

ZZ: Was bedeutet das konkret?

Gottlieb: Israel gibt ein Sechstel von dem aus, was andere OECD Länder im Durchschnitt in aktive Arbeitspolitikmassnahmen investieren. Das muss sich ändern.

„Es stimmt nicht, dass wir kein Geld wegen unserer schwierigen Sicherheitssituation haben“

ZZ: Es heisst immer, dass Israel aufgrund seiner schwierigen Sicherheitssituation kein Geld für soziale Belange hat. Stimmt das?

Gottlieb: Nein. Das sagt man, aber wenn wir realisieren, dass allein 9 Milliarden Schekel an die reichsten Schichten verloren gehen, weil man deren Zinsen nicht versteuert, dann begreift man das Geld da ist. Wir haben weitere 5 Milliarden Schekel (ca. 1 Milliarde Euro, 1,25 Milliarden CHF), die wir in Fördergelder für Kapitalanlagen stecken. Diese Gelder gehen an die reichsten Familien in Israel, an Firmen wie TEVA, Amdocs, Strauss.

ZZ: Aber braucht man diese Firmen nicht auch? Sie schaffen ja viele Arbeitsplätze im Land.

Gottlieb: Das ist eine sehr gute Frage. Wenn wir die Wirksamkeit dieser Massnahme analysieren möchten, lässt man uns nicht. Ich sage nicht, dass man diese Fördergelder abschaffen sollte, aber vielleicht kann man eine Milliarde weniger zahlen und dann schauen, ob das wirklich die Unternehmen aus dem Land verscheucht. Aber zu sagen, wir haben kein Geld wegen der Sicherheitsprobleme – damit bin ich nicht einverstanden.

ZZ: Benjamin Netanjahu hat im Nachgang zu den Wahlergebnissen mehr Sozialpolitik versprochen – was kann man diesbezüglich von der neuen Regierung erwarten? Wird der Sozialstaat ein Comeback feiern?

Gottlieb: Aus meiner Sicht ist das nicht sehr wahrscheinlich. Dabei muss dringend etwas passieren.

ZZ: Weil sonst die Lage irgendwann eskaliert?

Gottlieb: Die Demonstrationen waren ein erstes Anzeichen. Die Armut ist die Achillesferse der israelischen Wirtschaft. Wir brauchen neben dem Wirtschaftsberater, der durch den Chef der Bank of Israel gestellt wird, auch einen Sozialberater. Der aktuelle Armutsbericht wurde nicht einmal in der Regierung diskutiert.

ZZ: Dr. Gottlieb, vielen Dank für das Gespräch.

Weitere Informationen:

Redakteurin Katharina Höftmann Ciobotaru arbeitete im Auslandsbüro der dpa in Tel Aviv und für die WELT ONLINE. Sie lebt als freie Journalistin und Buchautorin in Tel Aviv («Guten Morgen Tel Aviv», «Die letzte Sünde»).

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